Gesammelte Werke
geschlagen. Der Platz des Campanile lag schweigend und verlassen, und die Lichter im alten Dogenpalast verlöschten eins nach dem andern. Ich kehrte auf dem Großen Kanal von der Piazetta her heim. Als aber meine Gondel gerade bei der Mündung des San-Marco-Kanals angekommen war, gellte aus einem dunklen Schlund eine weibliche Stimme in einem einzigen wilden, langgezogenen Schrei. Erschrocken sprang ich auf, während der Gondolier sein einziges Ruder fallen ließ. Ein Wiederfinden in der pechschwarzen Nacht war unmöglich, wir mussten uns also der Strömung überlassen, die hier vom großen in den kleinen Kanal treibt. Wie ein riesiger, schwarzgefiederter Kondor trieben wir langsam der Seufzerbrücke zu, als tausend Fackeln an den Fenstern und am Treppenhaus des Dogenpalastes aufflammten und mit einem Mal die tiefe Nacht in bleichen, unnatürlichen Tag verwandelten.
Ein Kind war aus den Armen seiner Mutter von einem der oberen Fenster des hohen Bauwerks in den tiefen dunklen Kanal gestürzt. Die stillen Wasser hatten sich lautlos über ihrem Opfer geschlossen, und obgleich außer meiner Gondel keine einzige andere zu sehen war, kämpfte schon mancher kräftige Schwimmer mit den Fluten und suchte auf der Oberfläche vergebens nach dem Schatz, der, ach! nur drunten in der Tiefe zu finden war. Auf den breiten, schwarzen Marmorflächen am Eingang des Palastes, wenige Stufen über dem Wasser stand eine Gestalt, die keiner, der sie damals sah, jemals vergessen haben kann. Es war die »Marchesa Aphrodite« – die Angebetete von ganz Venedig – die Strahlendste der Strahlenden – von allen den Schönheiten die Lieblichste – aber dennoch das junge Weib des alten, ränkevollen Mentoni; und sie war die Mutter jenes hübschen Kindes, ihres ersten und einzigen, das jetzt tief im modrigen Wasser in bitterem Harm ihrer süßen Zärtlichkeit gedachte und sein kleines Leben erschöpfte in dem Bemühen, sie herbeizurufen.
Sie stand allein. Ihr schmaler, nackter, silberglänzender Fuß schimmerte auf dem schwarzen Marmor. Ihr Haar, das sie zur Nacht erst halb gelöst, umschmiegte inmitten einer Flut von Diamanten ihr klassisch schönes Haupt in Locken gleich denen des jungen Hyazinth. Ein schneeweißes, schleierfeines Gewand schien fast die einzige Umhüllung des zarten Körpers; doch die Mittsommer- und Mittnachtluft war heiß, dumpf und still, und keine Bewegung der statuenartig reglosen Gestalt verschob die Falten des nebelleichten Gewandes, das sie umhing, wie der schwere Marmor die Niobe umhängt. Doch – seltsam – ihre großen glänzenden Augen blickten nicht hinunter auf das Grab, das ihre strahlendste Hoffnung barg, sondern glühten in eine ganz andere Richtung. Das Gefängnis der alten Republik ist, wie ich glaube, der stattlichste Bau in ganz Venedig; aber wie konnte jene Dame es so starr betrachten, wenn ihr zu Füßen ihr eigenes Kind im Todeskampf lag? Und jene dunkle Nische – die gerade in das Fenster jenes Zimmers hinübergähnt – was konnte in ihren Schatten, in ihrer Architektur, in ihren efeuumschlungenen düsteren Kranzgewinden sein, das die Marchesa di Mentoni nicht tausendmal vorher schon bewundert hätte? Unsinn! – Wer erinnert sich nicht, dass in solchen Schreckensmomenten das Auge gleich einem zertrümmerten Spiegel die Bilder seines Leids vervielfacht und in zahllosen, fernen Plätzen den Jammer sieht, der vor ihm liegt?
Viele Stufen höher als die Marchesa und innerhalb des Portals stand in festlichem Gewand die Satyrgestalt Mentonis. Er klimperte gelegentlich auf einer Gitarre und schien zu Tode gelangweilt, während er hie und da Befehle erteilte zur Wiederauffindung seines Kindes. Ich war so bestürzt und erschrocken, dass ich, nachdem ich bei dem entsetzlichen Schrei aufgesprungen war, mich nicht zu rühren vermochte, und so musste ich wohl den Blicken der aufgeregten Gruppe einen gespenstischen und unheimlichen Anblick bieten, wie ich da mit bleichem Antlitz und starren Gliedern in jener trauerschwarzen Gondel an ihnen vorüberglitt.
Alle Anstrengungen waren vergebens. Selbst die Ausdauerndsten gaben die Suche auf und überließen sich düsterem Gram. Es schien nur wenig Hoffnung noch für das Kind zu sein – wie viel weniger also für die Mutter! Doch aus dem Dunkel jener Nische, von der ich schon sagte, dass sie sich am Gefängnis der alten Republik befand und dem Fenster der Marchesa gerade gegenüber lag, trat jetzt eine in einen Mantel gehüllte Gestalt ins Licht; einen Augenblick
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