Bis ans Ende des Horizonts
Vorspiel
»Mein lieber Junge, wenn du das hörst, bin ich entweder vermisst oder tot. Das möchte ich von der Geschichte, die ich dir jetzt erzählen will, nicht behaupten – aber irgendwie will es mir nicht gelingen, sie wirklich zum Leben zu erwecken. Ich konnte mich eben immer schon besser durch Musik ausdrücken als durch Worte. Das ist bei dir ja ganz anders. Deshalb möchte ich, dass du diese Tonbänder eines nach dem anderen abspielst und dass du dabei die Geschichte aufschreibst, die ich darin erzähle. Und indem du unsere Geschichte – die Geschichte von Martin und mir – aufschreibst, schreibst du auch deine eigene Geschichte.«
Pearl, meine Tante, hat immer wieder Anläufe unternommen, ihre »Memoiren« zu schreiben, doch sie kam damit nie weiter als bis zu dem Tag, als sie ihre Unschuld in einem Vergnügungspark verlor. Sie kritzelte Sätze auf die Rückseite von Stromrechnungen, auf Papierfetzen oder in ihre Notizbücher, die hauptsächlich Notenentwürfe für Kompositionen, welche sie nie vollendet hat, enthalten. Ihre kurzen Kapitel ergaben allerdings nie mehr als eine Aneinanderreihung von mit viel zu vielen Adjektiven gespickten Anekdoten, die sie ohne Punkt und Komma verfasste.
Vor einem Jahr ist sie gestorben, zwei Monate nach meinem Vater Martin. Pearl und Martin waren Zwillinge und beide spielten Saxofon, aber Tante Pearl war die Musikalischere von ihnen. Sie wird in etlichen Handbüchern über die Jazzszene in Australien erwähnt, die seit den siebziger Jahren veröffentlicht wurden. Darin wird besonders hervorgehoben, welchen entscheidenden Beitrag sie dazu geleistet hat, dass der amerikanische Bebop auch in Australien heimisch wurde. Kein Mensch, nicht einmal der berühmte Saxofonist Don Burrows aus Sydney, kann sich heute erklären, woher sie darüber so viel wusste, ohne ausreichende Erfahrung damit zu haben.
Es ist gerade mal ein Woche her, dass mir Brian Jackson einen Besuch abgestattet hat. Jackson ist ein Musikhistoriker und befasst sich vor allem mit der Geschichte des Jazz. Leider kam er ungelegen, weil ich das Haus renoviere und an dem Tag gerade die Fußböden im Obergeschoss abgeschliffen wurden. Die Schleifmaschine machte einen ohrenbetäubenden Lärm, und ich konnte ihn kaum verstehen. Immerhin teilte er mir mit, Pearl habe ihn kurz vor ihrem Tod gebeten, wegen einiger Tonbandkopien hier im Haus Kontakt mit mir aufzunehmen. Aus irgendeinem Grund bestimmte sie, dass er erst ein Jahr nach ihrem Tod wegen dieser Aufnahmen zu mir kommen sollte. Warum sie diese Vorkehrung traf? Ich weiß es nicht. Und Brian weiß es auch nicht.
»Es geht um Folgendes«, setzte er an. »Ich schreibe gerade an einem neuen Buch über den australischen Jazz, und ein Kapitel befasst sich mit deiner Tante.«
Daraufhin erklärte ich ihm, dass ich ihre Aufzeichnungen und sämtliche Schallplatten und dergleichen aus ihrem Besitz bereits dem Nationalarchiv in der Hauptstadt Canberra gestiftet habe. Doch Brian erwiderte, dass es ihm nicht um ihre Notizen gehe.
»Alles, was hier war, habe ich dem Archiv übergeben«, sagte ich ihm, aber anscheinend konnte ich ihn damit nicht wirklich überzeugen. Er ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer und das angrenzende Esszimmer schweifen. Einige Sekunden lang starrte er den ausgestopften Hund auf einem Regal nahe beim Klavier an. »Das Haus ist ja ziemlich groß«, meinte er. Er wirkte sowohl hoffnungsvoll als auch ein bisschen verzweifelt. »Sie sagte mir, sie hätte sie gut versteckt, und erwähnte eine Spielzeugkiste. Klingelt da bei dir irgendwas?«
Ich dachte einen Augenblick lang nach. Mein Sohn hatte eine Kiste für seine Spielsachen, als er klein war, doch das ist zwanzig Jahre her, und die Kiste ist längst verschwunden.
Ich schüttelte den Kopf und fragte Brian, in welchem Verlag sein Buch erscheinen solle. Vor vielen, vielen Jahren waren er und ich beim gleichen Verlag, einer kleinen Firma in Melbourne. Nachdem sich mein dritter Krimi als bescheidener Verkaufsschlager entpuppte, war es meinem Literaturagenten gelungen, mit dem unabhängigen Großverlag Allen & Unwin in Sydney einen Vertrag über vier Bücher auszuhandeln. Seitdem hat meine Schriftstellerkarriere zum Höhenflug angesetzt.
Mein Serienheld ist Herman Djulpajurra, ein Detektiv mit Aborigine-Herkunft, der in einer entlegenen Missionsstation aufgewachsen ist. Als Junge hat er gelernt, Spuren und Fährten zu lesen, wie man sich im Buschland zurechtfindet und dessen Zeichen deutet; dann ging
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