Gesang der Rosen
Trauer nur bietet sich geil mir dar.
Tot ist die Freude, tot das Glück, der Glaube,
tot sind die Stunden, die im Blute lachen.
Tot ist die Hoffnung, tot das Morgen, tot das Leben,
tot ist die Kraft und tot auch das Erwachen.
Gibt es noch Sinn im Taumel der Verzweiflung?
Sinn lebt in Reue, im Vergebensein.
Mir aber ist der Weg zurück verschlossen,
die Nacht ist kühl, ich jedoch bin allein.
Zum letzten Male soll die Seele bluten,
das Herz zum letzten Mal in Versen singen.
Und still will ich im Nichts versinken,
Akkorde, die zerflattern und verklingen.
Mit meinem Schicksal, das ich dir gegeben,
bricht auch der Sinn an diese Welt entzwei.
Es bleibt ein Grauen nur, ein Schluchzen, Stöhnen,
ein Wort, ein Urteil, todesmatt – vorbei!
Die Feder gleitet aus der Hand,
die letzten Tropfen sind nicht Tinte, sondern Tränen.
Du kannst des Glückes Frohsinn noch erfassen,
du kannst dich noch im Schoß der Zukunft wähnen.
Und bald wirst du der Seele Schmerz verwinden,
allein mein Weg nur führt mich in das Dunkel,
ins Entschwinden …«
Vorsichtig legte André das Gedicht neben die Lampe, blickte noch einmal auf den Ritter und faltete dann die Hände. Langsam sank sein Kopf, bis er auf seinen Armen ruhte und seine langen, schwarzen Locken sich auf dem Grund des Beckens ringelten.
»Vergib mir, mein Gott«, flüsterte der Junge. »Vergib mir alles, ich kann nicht anders. Tröste meine Mutter und den Vater, tröste Jeanette, tröste auch mich, wenn ich als Frevler vor dir stehe, vergib mir meine Tat und laß sie allen Menschen Mahnung sein, verzeih mir alles und heile diese Welt vom Wahn, vergib denen, die dich lästern, denn sie kennen dich nicht, und verzeih auch denen, die dich lieben durch laute Worte, denn es sind nur Menschen und nicht wert deines göttlichen Fluches. Nimm mich gnädig auf, mein Gott.«
Er richtete sich langsam auf, griff in die Tasche und zog ein frischgeschliffenes, im fahlen Licht schwach blinkendes Rasiermesser hervor. Mit einem Lächeln nahm er es in die rechte Hand, zögerte ein wenig, blickte noch einmal auf den Ritter an der Wand und auf das undeutliche ›Verachte dich selbst‹, und indem er stärker lächelnd den Kopf schüttelte, legte er den linken Arm über das Taufbecken und durchtrennte mit raschem, kreisendem Schnitt seine Pulsader. Und während das Blut im Takte des Herzens stoßweise in das Becken schoß, nahm er das Messer in den Mund, durchschnitt auch die Ader der rechten Hand, ließ das Messer aus dem Mund in das Becken fallen, legte den rechten Arm neben den linken und senkte den Kopf.
Lautlos quoll das Blut aus den geöffneten Adern, aber einen vernehmbaren, höllischen Takt dazu schlug das eintönige Klick … Klick … in der tropfenden Ecke. Das Taufbecken füllt sich mit dem unersetzlichen, warmen Lebenssaft, von dem sich die Seele an den dem Körper zugefügten zwei Malen des Scheideweges trennte. Sie stieg empor zum Richterstuhl Gottes. Das Blut floß hinunter in den Abgrund des Todes.
Müde, unendlich müde sank der Kopf Andrés auf die Arme, der erschlaffende Körper fand noch Halt am Taufbecken, ein Röcheln wurde vernehmbar, blieb jedoch schon so leise, daß es kein Echo von den Wänden mehr weckte. Dann fiel der Leib über dem Becken zusammen, und die langen, schwarzen Locken vermählten sich mit dem Rot weggeworfenen Lebens.
Da war es, als hörte man Stimmen oberhalb der abgetretenen Steintreppe. Eilige Schritte wurden laut, sie kamen näher, polterten die Treppe herunter in die Gruft und übertönten den letzten Atemzug des Sterbenden.
»Licht!« rief eine Stimme. »Da unten ist Licht!«
Und eine alte, entsetzte Stimme schrie auf, während ein gebeugter, zitternder Körper in die Kapelle stürzte: »André … nein … um Gottes willen … André …«
Und die Stimme erstarb, die Stimme des Vaters.
Im gemischten Licht ihrer verschiedenen Lampen versammelten sich der Abbé Bayons, Julien Bonnet, der Gendarm und das Ehepaar Tergnier um den leblosen Körper. Erstarrt blickten sie auf den toten Jungen, für den jede Rettung zu spät kam. Das Schlimmste war der Anblick des blutgefüllten Beckens. Das Grauen stand jedem in das Gesicht geschrieben.
Die entsetzliche Stille wurde von Madame Tergnier durchbrochen. »Mir wird übel«, stöhnte sie und floh.
Das erweckte auch den erstarrten Küster wieder zum Leben.
»André«, stammelte er absolut verständnislos, »André …«
Plötzlich klammerte er sich an das Unmögliche und schrie: »Einen Arzt! Holt
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