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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ewig ist und auch das Glück der Nacht zerschmilzt beim ersten Strahl der Sonne? Was bin ich denn, wenn ich so lebe? Ein Frevler, ein Verächter meines reinen Gottes, ein Flüchtender vor der Wahrheit, ein Blinder, der nicht sehen will, ein Lahmer, der sich selbst verstümmelte. Spernere se sperni – verachte, daß du verachtest wirst. Nun, mein Freund, nicht nur verachtet wirst du in dieser Welt, sondern gekreuzigt, und ich soll deshalb auch kreuzigen, weil ich gekreuzigt werde? Dann mußt du wissen, daß das Rache ist, ein Mittel, das die Welt nicht heilt, das nicht den Menschen veredelt, das nur niedere Instinkte befriedigt. Frei wird der Mensch nicht durch Kreuzigung seiner Feinde – frei wird er durch das Opfer, das die Herzen aufreißt. Beispiele müssen dieser Welt gegeben werden, wie glühende Male muß man sie ins Fleisch der Menschheit brennen, das flammende Fanal der Schuld, das Menetekel der Erkenntnis muß auf dieser Erde leuchten, und Sonne, Mond und Sterne, Flüsse, Berge, Täler, das Meer, alles, alles müßte aus den Formen, den Bahnen ihrer eigenen Gesetze treten, um diesem Kretin Mensch zu zeigen, was es heißt, dem Bann des Natürlichen zu entgleiten, und welches Grauen er, der Mensch, in die bestehende Harmonie der Formen streuen kann. Verachte, daß du verachtest wirst? Nein, Freund, nein – flamme auf, läutere die Unreinen, stirb, damit die Lebenden leben, opfere, auf daß dein Opfer Aufruf werde und Saat eines neuen Ideals!«
    André Tornerre fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wische er den Schleier einer fremden Welt von seinem Blick, und sah dann wieder auf das Mosaik, das in dem zitternden Schein der Lampe sich zu bewegen schien.
    Ein leichter Gestank von Petroleumqualm mischte sich in den Modergeruch der Krypta, während das satanisch-monotone Tropfen in der Ecke noch lauter die Stille zerhackte.
    »Ich habe eine Mutter«, sagte André leise und strich mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand unbewußt über das heiße Dach der Lampe, unbewußt, mechanisch und doch in der Bewegung, wie nach einer inneren Befreiung suchend. »Eine Mutter, welcher der Gram um zwei Söhne, die sie verlor, schon früh die Haare bleichte. Und einen Vater, ja, einen Vater, der ein ganzes Leben für die Familie opferte. Und eine wunderbare Freundin … Jeanette. Sie bescherte mir den Himmel auf Erden, betäubendste Augenblicke des Glücks.« Er lächelte bitter. »Müßte das nicht genug sein, um dieses Leben mit der letzten Kraft zu lieben? O Mutter, wenn du hier in diesem Grabe stündest, du würdest schreien, wimmern, beten, flehen … doch wer hilft dir? Ein Gott? Die Götter, liebste Mutter, stehen bei den Opfernden. Und Opfer sind es, welche die Welt ernüchtern … am Opfer sind Jahrhunderte gesundet, und was wir einfach Leben nennen, ist doch nichts als eine Kette von Martyrium, die zu beweisen sucht, daß die irdische Existenz einen Sinn besitzt, für den man stirbt. Ob ihr das wohl begreifen könnt, du, Mutter … und du, Vater … und du, lieblichste Jeanette? Irgendwo in einer besseren Welt kann ich euch allen wieder meine Hände reichen. Glaubt nicht, daß ich euch verlasse, wenn ich gehe. In mir, versteht ihr, hier, in der Brust, starb, Stück für Stück, eine Welt, die mir so licht, so rein, so edel erschien, starb der Glaube an Gerechtigkeit, an Wahrheit, Menschlichkeit und Würde. Ich muß fort, will ich nicht an der Qual, mich selber ständig zu betrügen, ersticken. Versteht ihr das? Ich sterbe, weil ich das Leben, dieses Leben in einer ungerechten Welt nicht mehr ertragen kann. O liebste Mutter, liebster Vater, klagt und klagt mich an, vielleicht spürt ihr im tiefsten Innern doch die Wahrheit, daß auch das Schaffen eurer Hände nur gehorcht dem unerbittlichen Gesetz vom Kreislauf aller Dinge. Und du, Jeanette, bist jung und wirst in kurzer Zeit den Blick der Zukunft zuwenden, und die Erinnerung an André wird verblassen. Die Liebe, Herrliche, ist ewig, groß und heilig, doch jedes Jahr, das unser Leben auf sie häuft, erstickt die Flamme, bis die Glut nur noch unter schwerer Asche schwelt. Und das ist gut so, Jeanette, das ist der Abstand, der euch die Stufe bescheren wird, auf der ihr alle, Vater, Mutter und du, Jeanette, feststellen werdet, daß der Schmerz geschwunden ist. Bewahren konnte ich euch leider nicht davor, denn ich gehöre – bitte, seht dies ein – nicht in diese Welt.«
    André Tornerre schwieg und erhob sich von seinem Klappstuhl. Mit den Händen auf dem

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