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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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infolgedessen ein gegensätzliches Verhältnis zum Militär. «Das deutsche Ideal von Staatskunst besteht … darin, alle Ressourcen der Nation auf die militärische Stärke zu konzentrieren, während es, ganz im Gegensatz hierzu, das englische Ideal ist, die militärische Macht auf das unentbehrliche Mindestmaß zu beschränken, das zur Wahrung des Friedens erforderlich ist.» Die Engländer und die englischsprechenden Völker dachten in den Kategorien der «popular autonomy», die Deutschen in denen des Staates, und zwar des dynastischen Staates. Dementsprechend unterschieden sichder deutsche und der englische Freiheitsbegriff radikal. Aus deutscher Sicht bedeutete Freiheit, Befehle zu geben und freiwillig Befehlen zu folgen; für Engländer lief Freiheit in fast schon anarchistischer Manier darauf hinaus, Befehle im Zweifelsfall nicht befolgen zu müssen.
    Mit der Schaffung des Reiches unter Bismarck war Deutschland Veblen zufolge unter die «Herrschaft des aggressivsten und unverantwortlichsten, ja des archaischsten» der deutschen Staaten gekommen – eines Staates, der sein kriegerisches Wesen nicht verleugnen konnte und, gestützt auf sein großes industrielles Potential, unter Bismarcks Nachfolgern zu einer Gefahr nicht nur für seine Nachbarn, sondern für den Westen insgesamt geworden war. Veblen mußte sich gar nicht ausdrücklich für den Kriegseintritt der USA aussprechen. Seine Darstellung des «Prussian-Imperial system» als «typische Ausprägung und Verkörperung der Reaktion gegen den Prozeß der modernen Zivilisation» (the type-form and embodiment of this reaction against the current of modern civilization) ließ nur den einen Schluß zu, daß die englisch-sprechenden Völker der Welt bis zur letzten Konsequenz zusammenstehen mußten, um die westlichen Errungenschaften vor der Bedrohung durch Preußen-Deutschland zu bewahren.[ 3 ]
    Veblen war ein radikaler Liberaler, aber kein Marxist. Ging man von marxistischen Prämissen aus, konnte die tiefere Ursache des Krieges nur in der Entfaltung der Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems gesucht und gefunden werden. Der Kapitalismus war Ende des 19. Jahrhunderts in das Stadium des Imperialismus eingetreten; der Imperialismus war, wie der Führer der russischen Bolschewiki, Wladimir Iljitsch Lenin, schon im Titel einer Anfang 1916 im Züricher Exil verfaßten, im April 1917 in Petrograd (so seit 1914 der neue russische Name für St. Petersburg) veröffentlichten Schrift behauptete, das «höchste Stadium des Kapitalismus». Dieses Stadium war charakterisiert durch das Zusammenwachsen von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital, die Ablösung der freien Konkurrenz durch Monopole und internationale Kartelle, den Kapitalexport in die bisher noch nicht der Kapitalherrschaft unterworfenen, rohstoffreichsten, aber rückständigen Teile der Welt.
    Mit dem Übergang des Kapitalismus zur Stufe des Monopolkapitalismus und des Finanzkapitals war ein Kampf um die Aufteilung der Welt verknüpft. Die Ausbeutung der rückständigen Gebiete warf,wenn man Lenin folgte, hohe Profite ab, die den Kapitalrentnern in den Metropolen ein parasitäres Leben und den Monopolisten die Bestechung von Teilen der Arbeiterklasse erlaubten. Es gab daher einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und dem «Opportunismus», dem reformistischen und revisionistischen Abfall von der reinen marxistischen Lehre: eine These, mit der sich die Bewilligung von Kriegskrediten durch die sozialdemokratischen Parteien Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens trefflich denunzieren ließ.
    Aber mehr als eine Gnadenfrist konnte der Imperialismus dem parasitären und verfaulenden Kapitalismus nicht verschaffen. Lenin verwarf die von ihm als unmarxistisch bewertete Annahme Karl Kautskys, des führenden Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie, der Imperialismus könne seine Gegensätze auch friedlich, etwa im Rahmen internationaler Kartelle, ausgleichen. Unter Berufung auf Rudolf Hilferding, den aus Österreich stammenden, in der deutschen Sozialdemokratie aktiven Autor des 1910 erschienenen «Finanzkapital», sagte Lenin vielmehr die Verschärfung der kolonialen Gegensätze und das Erstarken der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen gegen das europäische Kapital in den Kolonien und anderen abhängigen Gebieten voraus. Um das für den Imperialismus typische «Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits, der

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