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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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hätte ich Literatur studiert. Nun kann ich zwar so gut wie jeder andere
Middlemarch
oder die
Dunciad
lesen oder mich, was weiß ich, in Julian Barnes oder Jay McInerney vertiefen, aber mir fehlt diese kleine Gehirnpartie, jener zusätzliche Lobus, den jeder Student der Literaturwissenschaft von Natur aus mitbringt, der Lobus, der ihm die Distanz und die Traute gibt, über Bücher (in seiner Ausdrucksweise
Texte
) zu reden, so wie andere über Vertragsabschlüsse oder Zellstrukturen reden. Ich weiß noch, wie wir in der Schule eine Ode von John Keats, ein Sonett von Shakespeare oder ein Kapitel aus der
Farm der Tiere
gelesen haben. Ich wurde immer ganz kribbelig und hätte weinen können, nur über die Wörter, über nichts anderes als die Abfolge von Klängen. Aber sobald ich einen dieser gefürchteten Aufsätze schreiben sollte, zappelte und strampelte ich mir einen ab. Ich habe nie herausgefunden, wo man
anfangen
muß. Wie findet mandie Distanz und wie bewahrt man ruhig Blut, um in einem akademisch akzeptablen Stil über etwas zu schreiben, das einen trudeln, eiern und flennen läßt?
    Ich erinnere mich an ein Kind in einem Roman von Charles Dickens,
Schwere Zeiten
, glaube ich, ein Mädchen, das bei Schaustellern aufgewachsen war und ihre gesamte Zeit mit Pferden verbracht, sie gestriegelt, gefüttert, dressiert und geliebt hatte. In dem Roman gibt es eine Szene, wo Gradgrind (es ist
Schwere Zeiten
, ich habe eben nachgesehen) einem Besucher seine tolle Schule vorführt und das Mädchen auffordert, »Pferd« zu definieren. Das arme Ding verliert natürlich auf der Stelle die Fassung, stottert, ringt nach Worten und starrt verzweifelt auf den Boden wie ein Mongo.
    »Mädchen Nummer Zwanzig nicht imstande auseinanderzusetzen, was ein Pferd ist«, sagt Gradgrind und wendet sich mit höhnischem Grinsen an Bitzer, einen Straßenjungen, der es faustdick hinter den Ohren hat. Dieser Schlawiner hat wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nicht den Mumm aufgebracht, ein Pferd auch nur zu streicheln, ihm macht es wahrscheinlich eher Spaß, mit Steinen nach ihnen zu schmeißen. Der kleine Fiesling steht auf, lächelt süffisant und legt los: »Vierfüßig. Grasfressend. Vierzig Zähne …« und so weiter, wird bewundert und bekommt tosenden Applaus.
    »Nun, Mädchen Nummer Zwanzig, weißt du, was ein Pferd ist«, sagt Gradgrind.
    Jedesmal, wenn ich in der Schule einen Aufsatz zum Thema »In Wordsworths
Prelude
manifestiert sich der Egotismus ohne das Erhabene: Diskutieren Sie diese These« schreiben sollte und ihn kurz darauf mit einer Fünf oder Sechs zurückbekam, hatte ich das Gefühl,
ich
wäre dieser stotternde Pferdefan und alle anderen in der Klasse mit ihren Einsen und Zweien wären die gemeinen Klugscheißer und Papageien, die schon längst keine Seele mehr hatten. Über Bücher, Gedichte und Theaterstücke konnte man nur dannerfolgreich schreiben, wenn sie einen im Grunde kaltließen. Hysterisches Schülergewäsch, keine Frage, eine Einstellung, die allein aus Egotismus, Eitelkeit und Feigheit bestand. Aber wie tief empfunden! Während der ganzen Oberstufe war ich der Überzeugung, »Literaturwissenschaft« sei eine einzige Abfolge von Autopsien, vorgenommen von herzlosen Technikern. Schlimmer noch:
Biopsien
. Vivisektionen. Sogar mit Filmen – und ich liebe Filme über alles, mehr als mein Leben –, sogar mit Filmen machen die das inzwischen. Wenn man heutzutage noch über Filme sprechen will, geht das nicht mehr ohne
Methodologie
. Sobald eine Sache zum Lehrstoff wird, ist sie eigentlich gestorben. Ich fand, daß ich in der Geschichte festeren Boden unter den Füßen hatte: Rasputin, Talleyrand, Karl den Fünften oder Kaiser Wilhelm
liebt
man schließlich nicht. Wie denn auch? Ein Historiker kann sich den angenehmen Luxus leisten, von seinem sicheren Schreibtisch aus darauf hinzuweisen, wo Napoleon Scheiße gebaut hat, wie diese Revolution hätte vermieden, jener Diktator gestürzt oder jene Schlachten hätten gewonnen werden können. Ich stellte fest, daß ich mit vollkommener Leidenschaftslosigkeit an die Geschichte herangehen konnte, wo per definitionem alle mausetot sind. Bis zu einem gewissen Grad. Und damit hätte sich der Kreis zu der Geschichte, um die es hier geht, wieder geschlossen.
    Als Historiker sollte ich imstande sein, klipp und klar von den Begebenheiten zu berichten, die sich zutrugen, als … aber wann
trugen
sie sich denn zu? Da besteht doch Diskussionsbedarf. Wenn Sie sich mit meiner

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