Das Internat
1. KAPITEL
R owe-Akademie für Mädchen
Tiburon, Kalifornien
Winter 1980
Das Baumwollhemdchen war zu eng. Es presste ihre Brüste zur kleinsten Körbchengröße zusammen. Sie zog sich eine frische weiße Bluse an und knöpfte sie auf, gerade so weit, dass der Ansatz ihres Halses entblößt war.
Sie konnte ihn sehen, sein nachdenkliches Gesicht. Er betrachtete sie, fasziniert von ihrem Ritual vor dem großen Spiegel. Sich für den Sex anzuziehen, kam ihr immer komisch vor, doch so mochte er es nun einmal. War er schon erregt? Elektrisiert vom rasenden Rhythmus seines Herzens?
Die Falten ihres karierten Rocks reichten ihr gerade bis an die Knie. Der Rock öffnete sich wie ein Kilt, und der Stoff flog auseinander, als sie auf einem Fuß herumwirbelte. Sie war jetzt fröhlich, kindlich. Ihre dunklen Zöpfe wippten. Sicher bemerkte er ihre Verwandlung. Während sie die baumwollnen Kniestrümpfe über ihre nackten Füße streifte, sah sie nicht in den Spiegel. Sie zog Seide vor, aber schließlich musste ihr Outfit authentisch sein. Kein Make-up war erlaubt, nur ein paar Kniffe in die Wange und etwas Lipgloss. Kein Schmuck. Das wäre zu viel.
Er war nicht länger im Spiegel zu sehen. In der Hoffnung, ihn auf dem Bett liegend zu entdecken, über die Maßen erregt und zitternd vor Scham, drehte sie sich erwartungsvoll um. So hatte sie Macht über ihn, und es musste heute alles glattgehen, sonst würde ihre Beziehung nicht überleben. Sie hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen. Aber ihre Hoffnung schwand, als sie ihn am Fenster stehen sah, den Blick auf den Hof gerichtet, drei Stockwerke unter ihrem Apartment, wo die Schülerinnen ihres Mädcheninternats gerade die Pause verbrachten.
Die Akademie, ein hufeisenförmiges Gebäude, gestaltet in der Art efeuumrankter viktorianischer Schlösser im alten England, war mehr als eine Schule, es war Millicents Zuhause. Nach dem Tod ihrer Großmutter vor fünfzehn Jahren hatte eine Stiftung in dem Gebäude ein Internat eingerichtet. In diesem Moment aber kam es ihr wie ein Gefängnis vor.
Sie ging zu ihm, aber er nahm ihre Anwesenheit nicht wahr. Stattdessen starrte er auf ein wunderschönes Wesen mit langen roten Locken und dem verheißungsvollen Lächeln einer Sixtinischen Madonna. Die junge Frau stand neben dem Brunnen in der Mitte des Hofes und schien nicht zu merken, dass der Dunst des Wassers sie wie ein Kommunionsschleier umschwebte. Wegen des frischen Wetters hielten sich die meisten Schülerinnen drinnen auf, aber diese wollte offenbar mit ihren Gedanken allein sein.
"Ist sie es also?", fragte ihn die Direktorin. "Eines meiner Mädchen? Du willst wirklich ein Kind?" Ihre Bitterkeit schmerzte sie wie eine blutende Wunde, aber er war sich dessen nicht bewusst.
"Sie ist kein Kind", stellte er fest. "Sie ist erwachsen, aber immer noch in der Blüte der Jugend. Sie ist natürlich und zauberhaft, unberührt."
Eine Welle des Zorns ergriff die Direktorin. Noch keine dreißig, und sie wurde zur Seite gestoßen für ein junges, dummes Mädchen? Nach allem, was sie für ihn getan hatte? Ihr ganzes Leben hatte sie nach seinen Bedürfnissen ausgerichtet, aber jetzt gab es keine Möglichkeit, ihm von den Neuigkeiten zu berichten. Er würde sich über sie lustig machen.
Ihre Wut erstarb. Sie erstarrte zu Eis. Er würde das bekommen, was er wollte, und er würde dafür zahlen. Er war ein mächtiger Mann. Allzu leicht konnte er sie ruinieren. Aber er war zu weit gegangen, und sie beide wussten es. Ja, er würde bekommen, was er wollte. Ja, er würde dafür zahlen.
* * *
San Quentin-Gefängnis
Sommer 2005
Nebel verschleierte die Sonne und verwandelte sie in einen silbernen Mond, als das Haupttor klirrte. Das große, dünne, gespenstische Abbild eines Menschen schlich in den Eingangsbereich. Er ging ein paar Schritte, doch es sah eher wie Schweben als Gehen aus. Ein dunkler Anzug schlackerte lose um seine knochige Gestalt, sein volles blau-schwarzes Haar fiel nach vorn, sodass kein Licht auf sein Gesicht fiel, von dem lediglich die spitzen Wangenknochen erkennbar waren. Ein Insasse des Todestraktes, aber er wurde entlassen – der einzige Häftling an diesem Tag.
Die Straße vor sich schien er nicht wahrzunehmen, nur die mittelalterliche Festung hinter sich. Nach ein paar Schritten hielt er inne, drehte sich um, schwankend wie ein spindeldürrer, übergroßer Baum. Er hob die Hand und krümmte alle Finger, außer dem mittleren. Es war weniger ein Akt des Trotzes als eine
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