Geschöpfe der Nacht
welche Zerstörung, welchen Schrecken sie irgendwann verursachen wird. Solange ich das Geheimnis von Moonlight Bay bewahre und nach den Regeln der Infizierten lebe, werde ich höchstwahrscheinlich am Leben und in Freiheit bleiben. Sollte ich allerdings versuchen, der Welt zu verraten, was geschehen ist, werde ich den Rest meiner Tage wohl in einem dunklen Raum in irgendeiner unterirdischen Etage unter den Feldern und Hügeln Fort Wyverns verbringen müssen.
Dad hat in der Tat befürchtet, daß man mich früher oder später wegbringen und einsperren wird, um auf diese Weise dafür zu sorgen, daß meine Blutproben auch weiterhin zur Verfügung stehen. Mit dieser Bedrohung werde ich mich befassen müssen, wenn und falls sie kommt.
Als am Sonntagmorgen und -mittag der Sturm über Moonlight Bay hinwegzog, schliefen wir — und von uns vieren wachte lediglich Sasha nicht aus einem Alptraum auf.
Nachdem ich vier Stunden geratzt hatte, ging ich in Sashas Küche und setzte mich bei zugezogenen Jalousien an den Tisch. Eine Zeitlang betrachtete ich im schwachen Licht die Worte MYSTERY TRAIN auf meiner Mütze und fragte mich, was sie mit der Arbeit meiner Mutter zu tun hatten. Obwohl ich ihre Bedeutung nicht ergründen konnte, war ich nicht der Meinung, daß Moonlight Bay sich lediglich auf einer Achterbahnfahrt in die Hölle befindet, wie Stevenson es behauptet hat. Wir befinden uns auf einer Reise zu einem geheimnisvollen Ziel, das wir uns einfach nicht vorstellen können: vielleicht wird es wunderbar sein, vielleicht viel schlimmer als alle Höllenqualen.
Später schlug ich einen Notizblock auf und schrieb bei Kerzenlicht. Ich habe vor, in den Tagen, die mir noch bleiben, alles aufzuzeichnen, was geschieht.
Ich rechne nicht damit, daß dieses Werk jemals veröffentlicht werden wird. Diejenigen, die möchten, daß die Wahrheit über Fort Wyvern nicht enthüllt wird, werden mir niemals erlauben, meinen Bericht weiterzugeben. Jedenfalls hatte Stevenson recht: Es ist zu spät, um die Welt zu retten. Und das entspricht genau dem, was Bobby mir während unserer langen Freundschaft immer wieder gesagt hat.
Obwohl ich nicht mehr an eine Veröffentlichung glaube, ist es wichtig, eine Aufzeichnung von dieser Katastrophe zu haben. Die Welt, wie wir sie kennen, sollte nicht untergehen, ohne der Nachwelt zu erklären, wie es zu diesem Untergang gekommen ist. Wir sind eine arrogante Spezies, bergen zahlreiche schreckliche Möglichkeiten in uns, sind aber auch in großem Ausmaß zu Liebe fähig, zu Freundschaft, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Vertrauen, Hoffnung und Freude. Wie wir durch eigene Hand umgekommen sind, könnte wichtiger sein als die Frage, wie wir überhaupt entstanden sind – denn dieses Geheimnis werden wir jetzt nie mehr ergründen.
Ich mag gewissenhaft alles aufzeichnen, was in Moonlight Bay und – darüber hinaus – auf der ganzen Welt geschieht, wenn die Kontamination sich ausbreitet, aber das könnte völlig sinnlos sein, weil eines Tages vielleicht niemand mehr da ist, der meine Worte lesen kann oder überhaupt die Fähigkeit hat zu lesen. Würde ich wetten, dann würde ich darauf setzen, daß irgendeine Spezies sich aus dem Chaos erhebt, um uns zu ersetzen und über die Erde zu herrschen, wie wir es bisher getan haben. Ja, würde ich wetten, dann würde ich mein Geld auf die Hunde setzen.
Am Sonntagabend war der Himmel so übergroß wie das Antlitz Gottes, und die Sterne waren so rein wie Tränen. Wir vier gingen zum Strand. Viereinhalb Meter hohe, laut donnernde, spiegelglatte Riesenwellen pumpten unaufhörlich vom fernen Tahiti heran. Es war kolossal. Es war so lebendig.
* * * *
ENDE
Anmerkung des Autors
Der Radiosender in Moonlight Bay, KBAY, ist ein völlig fiktives Unternehmen. Der echte Sender KBAY befindet sich in Santa Cruz, Kalifornien, und keiner der Angestellten des Senders in Moonlight Bay basiert auf einem ehemaligen oder derzeitigen Angestellten des Senders in Santa Cruz. Diese Buchstabenkombination wurde nur aus einem Grund geborgt: Sie ist cool.
In Kapitel siebzehn zitiert Christopher Snow eine Zeile aus einem Gedicht von Louise Glück. Der Titel des Gedichts lautet »Lullaby«, und es erschien in Miss Glücks wunderbarem und bewegendem Buch Ararat.
Christopher Snow, Bobby Halloway, Sasha Goodall und Orson gibt es tatsächlich. Ich habe viele Monate mit ihnen verbracht. Ich befinde mich gern in ihrer Gesellschaft und habe vor, in den kommenden Jahren noch viel Zeit mit
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