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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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    In der Nacht, bevor Dela die Schatulle kaufte, wurde sie von seltsamen Träumen heimgesucht. Vielleicht war es ein Vorzeichen. Sie schenkte dem jedoch wenig Beachtung, denn an befremdliche Träume war sie gewöhnt. Von denen waren allerdings nur sehr, sehr wenige jemals wahr geworden.
    Trotzdem blieb sie wachsam, als sie am nächsten Morgen das Hotel verließ und in die glühende, trockene Hitze eines der seltenen, klaren Tage, die es in Peking gab, hinaustrat. Der stetige Wind hatte den Smog und den Gestank von Abgasen und Abfall in der Nacht weggeweht. Der Himmel war strahlend blau. Die Sonne glänzte auf dem Glas der Wolkenkratzer, den Wagen, den Diamanten, selbst auf den Aluminiumstreben der Schirme, mit denen sich dunkeläugige Frauen vor ihr schützten. Sie funkelte in Delas bloße Augen. Die Welt schien das Licht förmlich auszuschwitzen.
    Die Stadt hatte sich verändert. Zehn Jahre kapitalistischer Einfluss hatten ein Netz aus Glas und Werbeplakaten gesponnen; die moderne Infrastruktur legte sich über das Land - wie der feine Staub der Wüste Gobi, den die Nordwinde hereintrugen. In der Stadt herrschte, wie in ganz China, eine neue Kulturrevolution. Ihre Form und ihr Ergebnis gingen Dela nah. Sie hörte, wie Pekings anschwellendes Lied, die Seele der Stadt und die kollektive Seele seiner dreizehn Millionen Einwohner in den Stahl eingeätzt wurden.
    Es war gefährlich und verlockend... sie hörte nicht gern lange zu. In dieser Stimme lag zu viel Gier, überwältigende Versprechungen und Hoffnung, gefärbt mit Verzweiflung. Es war eine zweischneidige Klinge, aus den Träumen der Menschen geschmiedet, die um sie herum lebten.
    Sie ist wie jede andere Großstadt, rief sie sich ins Gedächtnis und stärkte ihren mentalen Schild. Teufel und Engel, die Verlorenen und Wiedergefundenen.
    Taxen drängten sich auf der Hotelzufahrt wie Feuerameisen, schnell und rot; Dela sprang in das erste, das mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Sie nannte ihr Ziel in perfektem Mandarin, das ihr glatt von der Zunge kam. Nach einer Woche in China hatte sich ihr damaliger Sprachunterricht mit Macht zurückgemeldet. Sicher, sie hatte mit ihrem Assistenten Adam, einem früheren Einwohner von Nanjing, manchmal geübt. Aber der Alltag hatte seine Schwingen über sie gebreitet, Jahre, in denen sie sich nicht hatte anstrengen oder ihre Studien hatte hervorzerren müssen, die sie einst um die ganze Welt geführt hatten. Dela befürchtete schon, vielleicht alles vergessen zu haben, was nicht mit Metall oder der Esse zu tun hatte, und konnte jetzt erleichtert feststellen, dass dem nicht so war.
    Das Taxi drängte sich von einer überfüllten Spur auf die andere, ein haarsträubender Mischmasch von dröhnenden Motoren und quietschenden Reifen, während sie eine von Bäumen gesäumte, geschwungene Straße hinabfuhren, an der bunte Trainingsstangen einen schattigen grünen Flecken von Park säumten. Ältere Männer und Frauen absolvierten kreisende Dehnübungen, während Kinder auf Wippen vor Freude kreischten. Mit Menschen und Fracht überladene Fahrräder gondelten über die Straße, Wagen fuhren weite Bogen, um häufig unglaublich breiten Lasten oder auch den Gruppen zerlumpter junger Männer auszuweichen, die über die Straße hetzten.
    Dela sah eine niedrige Mauer, die ihr bekannt vorkam. Vom Alter war sie zwar rissig, aber die gemeißelten Blumen und der Stacheldraht wirkten noch unverändert. Sie tippte an die Plastiktrennscheibe, und der Fahrer setzte sie vor dem breiten Eingang ab, dessen weit aufgesperrte, zerkratzte blaue Türen sowohl Fremde als auch Einheimische einließen, die sich durch ein tückisches Labyrinth geparkter Fahrräder schlängelten. Dela blickte in Gesichter, aus denen Neugier und Habsucht strahlten.
    Sie betrat den Pan Jia-Yuan. Den Dreckmarkt. Touristenfalle, Bienenkorb aus antiken Bruchstücken und unverblümten Fälschungen - das Paradies eines Schatzjägers. Und Dela war in Jagdstimmung.
    Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, als sie an gebeugten alten Frauen und Männern vorbeiging, die den umlagerten Frühaufstehern, die ihre Schätze bereits in den Händen trugen, Einkaufstaschen aus Nylon anboten. Sie trat auf die Betonplattform unter dem gewaltigen Blechdach und lauschte dem Klingeln billiger Jade: Armbänder, Statuetten, Halsketten. Billiger Tand, und sehr beliebt, jedenfalls nach den Menschentrauben zu urteilen, die sich darum drängten. Aber ihr fiel nichts ins Auge. Mögliche Geschenke,

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