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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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Liebesbeweise verlangt? Das Beharren auf einem Maximum an Sicherheit erstickt jede Spontaneität und Kreativität. Kann man es riskieren, dass Kinder auf dem Schulhof mit Schneebällen werfen? Sicherheitsbesessene Eltern erwarten von der Schule und den übergeordneten Behörden, dass sie das Risiko einer Verletzung ausschalten. Versicherungsbestimmungen, Erlasse der Schulbehörde, Schulordnungen und Pausenregelungen grenzen (im Wortsinne) Spielräume ein, teilen Verantwortlichkeiten zu. Fachleute für Unfallverhütung fordern allen Ernstes »kontinuierliche Beaufsichtigung« oder »grundsätzlich ununterbrochene Aufsicht«. Wenn dennoch etwas passiert, ist der aufsichtführende Lehrer dran. Folglich lebt er in ständiger Angst vor der Spontaneität, dem Bewegungsdrang der Schüler. Aus Angst greift er allzu oft disziplinierend ein, provoziert seinerseits Angst, Aggression, Unsicherheit.
     
    Ein Staat, der überall Subversion, Unterwanderung, Bereitschaft zu Gewalt und Terror wittert und alles daransetzt, jede mögliche Gefährdung der freiheitlichen Ordnung schon im Keim zu ersticken, vernichtet als erstes die Freiheit selbst.

     
    Die ständige Perfektionierung unserer militärischen Sicherheit kann, wie im Kalten Krieg geschehen, selbst zur Quelle von Gefahren werden. Die Tendenz unseres Rechtssystems, möglichst jeden denkbaren Tatbestand eindeutig zu regeln und so Zweifel und Unsicherheit zu beseitigen, führt dazu, dass kein Bürger ohne Hilfe von Experten mehr durchschaut, dass Abhängigkeit und Unsicherheit wachsen. Je mehr wir uns zur risikofreien Bewältigung des Alltags große private und öffentliche Leistungssysteme verfügbar machen, desto mehr liefern wir uns den Apparaten aus und sind, wenn die komplizierten und störanfälligen Systeme einmal versagen, unfähig, uns selbst zu helfen. Martin Buber sprach in diesem Zusammenhang prophetisch von der »Zwingherrschaft des wuchernden Es«.
     
    Neu ist nicht das Problem, sondern seine Radikalität. Zweifellos haben die Menschen schon immer um der Selbsterhaltung willen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und bereits in den frühesten Stadien der Menschheitsgeschichte basierten diese auf kollektiven Anstrengungen, die den Einzelnen den Zwängen der Organisation unterwarfen. Ebenso unbezweifelbar ist, dass mit dem ersten Aufdämmern des Ich-Bewusstseins der Mensch sich auch seiner eigenen Freiheit und Sterblichkeit bewusst wurde und danach trachtete, sein Handeln und seine Existenz in die Ordnung eines Gesetzes einzufügen, den Tod in einen sinnvollen kosmischen oder religiösen Zusammenhang zu stellen und dadurch Sicherheit zu gewinnen. Magische Rituale, die Götter gnädig stimmende Opfer, der Sprung in die Glaubensgewissheit, die Errichtung philosophischer Systeme und Dogmengebäude, die Flucht aus dem Getriebe der Welt in die rigide Ordnung des Klosters, ja, sogar die Unterwerfung unter den Befehl eines absoluten Herrschers – all das sind auch Techniken der Bewältigung von Angst und der Gewinnung von Sicherheit. Das Streben nach Sicherheit ist ohne Zweifel in der Natur des Menschen angelegt.

     
    Aus der Literatur wissen wir, dass die Menschen sich seit Jahrtausenden mit der Frage herumschlagen, was der nächste Tag, das nächste Jahr bringen wird. Wird die Ernte gut ausfallen, werden unsere Unternehmungen gelingen, werden wir von Krankheiten verschont bleiben, Gefahren glücklich überstehen, erreichen, was wir am heftigsten begehren? Was Peter Rühmkorf seinen Zeitgenossen bescheinigte, galt auch für deren Großväter und Urgroßväter: »Man guckt in die Zukunft (...) wie in eine Geschützmündung.« Es ist die quälende Unsicherheit bezüglich des künftigen Geschicks, die uns nachts nicht schlafen lässt. Und wenn wir nach einer schlaflos verbrachten Nacht uns mit sorgenumwölkter Stirn vom Lager erheben, sind da schon die Experten, die behaupten, die Zukunft voraussagen zu können: die Wahrsagerin auf dem Markt für das gemeine Volk, die Auguren und Sterndeuter für die Herrschenden. Heute sind es nicht mehr Sternkonstellationen oder Handlinien, die die Experten ausdeuten, sondern computergenerierte Zahlenkolonnen und Diagramme. Ganze Schwärme von Wissenschaftlern erstellen auf diese Weise vermeintlich wissenschaftliche Prognosen, die uns Sicherheit vorspiegeln, obwohl ihre Trefferquote in Wirklichkeit die einer Wahrsagerin alten Stils oder des Zeitungshoroskops nicht übertrifft. Mit Risikomanagement lässt sich heute viel Geld verdienen,

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