Gesetze der Lust
den kleinen Owen noch zu seinen Eltern, die ebenfalls am Gottesdienst teilgenommen hatten. Das hielt sie ein paar Minuten auf. Als sie endlich vor Sørens Büro ankam, lehnte Michael bereits mit verschränkten Armen neben der Tür an der Wand.
„Dich hat er auch herbeizitiert?“, fragte sie und setzte sich auf die Bank, die gegenüber von Sørens Bürotür stand.
Michael nickte.
„Fühlt sich ein bisschen so an, wie zum Direktor gerufen zu werden“, sagte Nora. „Ich habe gehört, dass du dieses Jahr der Abschlussredner bist, also hast du vermutlich nie vor dem Büro des Rektors warten müssen, oder?“
Nora wartete, doch Michael antwortete nicht. Er lächelte, sagte aber keinen Ton.
„Michael? Hast du Angst, dass ich gleich die neunschwänzige Katze auspacke?“
Er lachte … leise.
„Na endlich.“ Nora atmete erleichtert aus. „Hast du irgendeine Ahnung, weshalb wir hier sind?“
Michael zuckte mit den Schultern. „Nein. Ich glaube allerdings, dass es nichts Gutes zu bedeuten hat.“
„Michael, du hast doch mit niemandem über, du weißt schon … über uns gesprochen, oder?“
Michael schaute sie so verletzt an, dass sie sich sofort ärgerte, auch nur für einen Moment gedacht zu haben, Michael könnte mit irgendjemandem darüber geredet haben.
„Nora“, seine Stimme war kaum ein Flüstern, „ich spreche nicht mal mit mir selber.“
Jetzt war es an ihr zu lachen.
„Tut mir leid, Engel, ich bin ein wenig paranoid.“
„Ist schon okay. Ich habe nichts gesagt, versprochen. Ich rede nie.“
Nora stand auf und ging zu Michael. Sie stellte sich nebenihn und schaute ihm offen ins Gesicht. Er wollte den Blick abwenden, aber sie schnippte mit den Fingern vor seiner Nase und zeigte auf ihre Augen. Sofort vertieften sich seine silbernen Augen in ihre grünen.
„Du hast in der Nacht mit mir gesprochen“, hauchte sie an seinem Ohr.
Mit hochroten Wangen flüsterte Michael: „Das war nur ein Traum.“
Nora blies sanft gegen seinen Hals.
„Dann haben wir dasselbe geträumt.“
Michaels Pupillen weiteten sich, und sie wusste, dass er sich an die Nacht erinnerte, in der Søren ihn ihr überlassen hatte – als Geschenk und als Test. Sie hatte das Geschenk genossen und war beim Test durchgefallen.
„Geht es dir gut?“ Sie trat einen Schritt zurück, um ihm etwas Raum zum Atmen zu geben.
Michael rieb sich nervös über die Arme.
„Ja, ganz gut, glaub ich.“
„Hat Søren dir das Buch gegeben?“
„Ja. Es hat geholfen. Danke.“ Nora hatte ihm ihre abgegriffene Ausgabe von Der andere geheime Garten überlassen, ein Klassiker über die Psychologie sexueller Unterwerfung.
„Gern geschehen. Telefoniert unser Priester?“
Michael nickte.
„In welcher Sprache?“
„Erst auf Französisch.“ Michael lehnte sich weiter in Richtung Tür. „Jetzt auf Dänisch.“
„Hm … das sind gute und schlechte Neuigkeiten.“
„Wieso?“
Nora kehrte zur Bank zurück und schlug ihre Beine übereinander – eine Bewegung, die Michaels Aufmerksamkeit erregte.
„Französisch ist schlecht. Französisch bedeutet, er spricht mit Kingsley.“
„Wer ist Kingsley?“
Nora kicherte. Wer war Kingsley? Kingsley Edge, der Königder Perversen in New York City. Halb Franzose – durch und durch versaut. Ihr gelegentlicher Liebhaber und Sørens bester Freund. Nun ja, zumindest an den Tagen, an denen Søren nicht drohte, ihn umzubringen.
„Französisch ist schlecht, weil er Kingsley immer anruft, wenn es um zweifelhafte Machenschaften geht. Aber Dänisch ist gut. Søren ruft sonntags nach der Messe immer seine Nichte in Kopenhagen an. Was auch immer gerade passiert, ist also nicht so wichtig, dass es seine Routine durcheinanderbringen würde.“
„Father S. hat eine Nichte?“ Die Vorstellung schien Michael zu überraschen.
Nora grinste ihn an. Søren wirkte oft so, als ob er der Prototyp des vollkommenen Menschen sei und über allen weltlichen Dingen stände. Man konnte ihn sich nur schwer als kleinen Jungen vorstellen, der Eltern hatte, zur Schule ging und seine Hausaufgaben machte. Aber sie wusste alles über seine Familie – das Gute und das Schlechte.
„Zwei Nichten, einen Neffen. Und …“, sie hielt drei Finger in die Höhe, „drei Schwestern. Zwei in Amerika, eine in Dänemark.“
Michael schaute zur Decke.
„Wow.“
„Kannst du dir vorstellen, ihn …“, sie zeigte auf die geschlossene Tür, hinter der sich einer der beeindruckendsten Männer aller Zeiten befand, „… als Bruder
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