Gesetze der Lust
zu haben? Beängstigender Gedanke, oder?“
„Ihre Freunde beneide ich auf jeden Fall nicht.“
Sie lachten zusammen, obwohl Nora wusste, dass Søren die Möglichkeit verwehrt geblieben war, ein normales brüderliches Verhältnis mit seinen Schwestern aufzubauen. Er und Freja waren in verschiedenen Ländern aufgewachsen, und Claire war fünfzehn Jahre jünger als er. Und Elizabeth … nun, das war eine ganz andere Geschichte.
„Komm her und lass mich dich anschauen.“ Nora verdrängte die düsteren Überlegungen. „Wie groß bist du jetzt?“
„Einen Meter achtundsiebzig.“ Michael kam gehorsam näher. „Ich wusste, dass du noch nicht ausgewachsen warst“, sagte sie und erinnerte sich daran, wie sie ihn, als er in jener Nacht schlief, ganz genau gemustert hatte. „Deine Größe passt jetzt endlich zu deinen Händen. Allerdings hast du nicht wirklich zugenommen.“
Er verzog das Gesicht. „Erinner mich nicht daran.“
„Komm mir nicht mit deinen Teenagersorgen, Engel. Du bist groß, dünn, hast eine perfekte Porzellanhaut und die Wangenknochen eines Supermodels. Und anders als meine Fransen wissen deine langen schwarzen Haare sich zu benehmen. Du, junger Mann, bist der hübscheste Kerl, den ich je gesehen habe.“
Nora musterte ihn. An seiner Schule wurde Michael vermutlich für sein Aussehen gehänselt. Er war nicht übertrieben feminin, aber er hatte das Stadium des hübschen Jungen schon lange hinter sich gelassen und war jetzt einfach nur wunderschön. Die Mädchen beneideten ihn wahrscheinlich darum, dass er morgens nach dem Aufwachen zauberhafter aussah als sie nach einer Stunde schminken – und die Jungen hassten ihn vermutlich dafür, dass er in ihren fiebrigen Teenagerhirnen homoerotische Fantasien auslöste.
„Wenn du das sagst.“
„Ja, das sage ich. Und ich habe, was so etwas angeht, immer recht. Bist du denn inzwischen endlich volljährig, Kleiner?“, neckte sie ihn.
Er errötete. „Ich bin letzten Monat siebzehn geworden.“
„Damit bist du in diesem Staat sexuell mündig.“ Sie zwinkerte ihm zu. Das Rot seiner Wangen vertiefte sich. Michael wollte gerade etwas sagen, da öffnete sich die Tür zu Sørens Büro. Ohne ein Wort winkte Søren sie beide mit einem Fingerzeig zu sich und verschwand wieder in seinem Allerheiligsten.
Nora atmete tief ein.
„Das ist unser Stichwort.“ Sie stand auf und streckte den Arm aus. Michael zögerte nur eine Sekunde, bevor er seine zitternden Finger in ihre Hand legte.
Hand in Hand betraten sie Sørens Büro. Obwohl sie ihn bereits seit gut zwanzig Jahren kannte, hatte sie relativ wenig Zeit in diesem Raum verbracht. Jedes Mitglied der Sacred-Heart-Gemeinde kannte „Father Stearns’ Regeln“: Der Zutritt zu seinem Büro war Kindern unter sechzehn Jahren nur in Begleitung ihrer Eltern gestattet; niemand durfte sich allein mit ihm im Büro aufhalten, wenn die Tür nicht offen stand, private Unterhaltungen waren allein der Beichte vorbehalten, und niemand, absolut niemand, durfte jemals das Pfarrhaus betreten.
Außer Nora natürlich.
Die Regeln waren streng, aber in der krisengebeutelten katholischen Kirche notwendig und wirkungsvoll. In all seinen Jahren in der Sacred-Heart-Gemeinde hatte es um Søren nicht den kleinsten Hauch eines Skandals gegeben.
Nora und Michael setzten sich auf die Stühle vor Sørens Schreibtisch. Als sie sich umschaute, fiel Nora auf, dass sich in diesem Zimmer nur wenig verändert hatte, seitdem Søren die Sacred Heart vor gut zwanzig Jahren übernommen hatte. Sein aufgeräumtes und elegantes Büro war reichlich ausgestattet mit Büchern und Bibeln in beinahe zwei Dutzend verschiedenen Sprachen. Auf dem riesigen Eichentisch stand ein gerahmtes Foto seiner wunderhübschen Nichte Laila. Laila musste in Michaels Alter sein. Seit ihrer letzten Reise nach Dänemark hatte Nora sie nicht mehr gesehen. Nora liebte ihre seltenen gemeinsamen Ausflüge in fremde Länder – nur auf einem anderen Kontinent konnten sie und Søren Händchen haltend die Straßen entlangschlendern. Aber er war schon Priester gewesen, als sie sich ihm hingegeben hatte, und er hatte sie, bevor sie ihm ihr Gelöbnis gab, gewarnt, dass sie niemals eine normale Beziehung führen würden. Mit achtzehn hatte es ihr nichts ausgemacht, ihm zu versprechen, dass sie für ihn nur zu gerne alle Opfer auf sich nähme. Mit vierunddreißig würde sie immer noch die gleiche Entscheidung treffen wie damals, aber vielleicht würde sie ihr nicht mehr ganz so
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