Gewitter der Liebe
Leben einzuhauchen.
Ungefragt setzte sich Lilly neben sie. »Letzte Woche habe ich gehört, dass in San Francisco nicht nur Arbeitskräfte gesucht werden, sondern auch junge Frauen im heiratsfähigen Alter.«
»Ach ja?« Julia war gegen ihren Willen hellhörig geworden.
Lilly nickte eifrig. »Tausende von jungen Männern wandern nach Kalifornien aus, um nach Gold zu suchen. Da liegt es doch auf der Hand, dass sie sich eine Frau wünschen und eine Familie gründen wollen. Stell dir vor, du gerätst an einen, der gerade einen großen Goldklumpen gefunden hat – dann hast du für immer ausgesorgt!«
Über diese unromantische Äußerung musste Julia lachen. Lilly hielt nicht viel von ewig währender Liebe und der Gründung einer Familie.
»Und was würdest du in San Francisco machen?«, fragte Julia neugierig. »Was würdest du mit dem Geld anfangen, dass du dort als Näherin verdienen würdest?«
»Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich dort noch eine Nähnadel anfassen würde!«, erwiderte Lilly und hob ihre Hände. »Sieh dir nur meine zerstochenen Finger an.«
»Die habe ich doch auch!«
»Aber ich würde in San Francisco gerne etwas anderes arbeiten.«
Julia rückte so weit nach hinten, bis ihr Rücken die kahle Wand berührte. »Du hast doch nichts als das Nähen gelernt.«
»Lach jetzt nicht, aber ich würde gern in einem Saloon arbeiten.«
Entsetzt starrte Julia sie an. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch, das ist es. Ich weiß, dass es genügend Saloons in San Francisco gibt, in denen die Goldsucher ihren Tagesfund für Schnaps und Glücksspiel ausgeben. Die Männer mögen mich, und was ist schon dabei, sie zum Trinken zu animieren.«
Julia teilte diese Moral ganz und gar nicht. Auch sie war mit ihren dunklen Haaren und grauen Augen eine hübsche Frau, aber wenn die Männer ihr begehrliche Blicke schickten, achtete sie nicht darauf. Ein lockerer Lebenswandel, wie ihn sich Lilly vorstellte, kam für sie nicht in Frage – niemals!
»Sieh mich nicht so verdattert an.« Lilly lachte. »Die Jungs in Kalifornien sind stinkreich, wenn sie genug Gold geschürft haben. Und da dort Frauen Mangelware sind, suchen sie in den Saloons etwas Abwechslung, und meine Anwesenheit würde dafür sorgen, dass sie genug Abwechslung bekämen.«
»Du würdest dort … deinen Körper verkaufen?«
»Was du immer denkst! Ich würde die Männer zum Trinken animieren, und dabei fiele sicher oft ein hübsches Trinkgeld für mich ab. Warte.« Lilly sprang vom Bett, lief zur Kommode und wühlte in der untersten Schublade herum. Dann kam sie mit einem zusammengefalteten Zettel zurück und ließ sich wieder auf Julias Bett nieder. »Lies das mal.«
Der Zettel war stark zerknüllt und die Buchstaben kaum noch leserlich. Julia begriff lediglich, dass es sich um einen Aufruf handelte, gerichtet an die unzähligen New Yorker Näherinnen, die in Heimarbeit Hemden nähten und noch jämmerlicher bezahlt wurden als die Frauen in den Fabriken. Verständnislos hob Julia den Blick.
Lilly half ihr auf die Sprünge. »Ich hab diesen Zettel von einer der Heimarbeiterinnen bekommen. Eine Witwe namens Eliza Farnham, deren Mann in Kalifornien gestorben ist, hat erkannt, dass es in San Francisco zu wenig Frauen gibt, und diese Aktion ins Leben gerufen. Sie ruft alle Heimarbeiterinnen auf, mit ihr zu gehen, es soll sogar in der Zeitung gestanden haben.«
Noch immer wusste Lilly nicht, worauf die Freundin hinauswollte, wagte sie jedoch nicht zu unterbrechen.
»Über zweihundert sollen sich für die Reise beworben haben, denn in San Francisco können sie bis zu fünfunddreißig Dollar am Tag verdienen!«
Julia schluckte und echote leise: »Fünfunddreißig Dollar …«
»Ich glaube nicht, dass Mrs Farnham übertrieben hat, auch wenn sie selbst nie dort gewesen ist. Aber sie hat die Hilferufe in den Zeitungen gelesen, in denen man dringend Arbeitskräfte suchte, und kam auf die Idee, junge alleinstehende Frauen zur Auswanderung zu animieren. Unzählige junge Männer aus aller Welt sind auf der Goldsuche und würden gerne heiraten. Da die meisten der Interessierten kein Geld für die Schiffspassage haben, hat Mrs Farnham Geld bei reichen Leuten gesammelt, und Ende April fährt sie mit dem Schiff und den Frauen los. Die Glücklichen!«
»Aber warum erzählst du mir das alles?« Ratlos legte Julia den ramponierten Zettel beiseite. »Wir werden nicht bei diesen Frauen sein.«
»Das nicht, aber das Vorhaben brachte mich auf die Idee,
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