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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    Eine weiße Flamme zuckte auf, aber vollkommen lautlos. Der Scharfschütze hatte einen Schalldämpfer aufgesetzt und feuerte
     ununterbrochen. Immer auf ein und denselben Punkt. Die weißen Blitze dehnten sich zu zitternden langen Strichen und flossen
     langsam dahin, zu langsam für eine Schießerei – wie es nur im Traum geschieht.
    Sergej versuchte das Dickicht des Traums zu durchbrechen, er begann die Feuerstriche zu zählen, und bei sieben merkte er,
     dass seine Augen längst offen waren; es gab keine Schüsse, nur eine Reihe gleichförmiger eisiger Lichter.
    Er spürte weder Arme noch Beine, er schien überhaupt keinen Körper mehr zu haben. Wahrscheinlich lag er noch am Fuß des kahlen
     Berges am Dorfrand, und sein Skelett wurde von verwilderten Hunden abgenagt, die sich zu Beginn des Krieges von ihren Ketten
     vor den verlassenen und verbrannten Häusern losgerissen hatten und nun in Rudeln über Tote und Lebende herfielen.
    Major Loginow war tot, anders konnte es nicht sein. Er war gefallen, und seine unsterbliche Seele passierte nun einen langen
     schmalen Tunnel, flog hindurch wie eine Kugel durch einen Gewehrlauf, aber tausendmal langsamer. So war das also – wie schön,
     so still und überhaupt nicht beängstigend.
    Indessen zersplitterte die Stille, und Sergej vernahm ein gleichmäßiges Gummigeraschel, dann entferntes, undeutliches Gemurmel.
     Die Geräusche traten allmählich hervor, wie die Konturen auf einem Abziehbild.
    »Gib ihm einstweilen weiter Glucose und beobachte Blutdruck und Herz«, sagte ein munterer Bariton mit leichtem kaukasischem
     Akzent. »In ein paar Stunden, wenn die Narkose nachlässt, verabreichst du ihm was gegen die Schmerzen. Das wars, Katja, ich
     geh jetzt essen. Heute Abend schaue ich wieder bei ihm vorbei.«
    »Alles klar, Hamlet Rubenowitsch«, antwortete ein heller Sopran eifrig.
    »Alles klar, alles klar«, knurrte der Bariton, während er sich entfernte, »pass auf, dass seine Nähte anständig versorgt werden.
     Ich vollbringe nicht jeden Tag solche Wunder. Eine intrakortikale Transplantation, das ist was anderes, als eine Verstauchung
     richten.«
    »Keine Sorge, Hamlet, geht alles in Ordnung!«
    Die langen Lichter schwebten noch immer langsam über seinem Kopf dahin. Dann erschien ein junges rundes Gesicht mit blauen
     Augen, gelbblondem Schopf und kleinen Sommersprossen.
    »Hallo«, sagte das Mädchen und lächelte, »wie fühlen wir uns?«
    »Meine Beine«, hauchte er.
    »Gib nicht an, dir tut noch nichts weh!« Das Mädchen schüttelte den Kopf und machte ein strenges Gesicht.
    »Nein«, stimmte er zu, »es tut nichts weh.«
    »Was hast du dann?«
    »Sind Sie noch da?«
    »Na klar!« Wieder ein Lächeln, übers ganze Gesicht – kleine, blendendweiße Zähne. »Intrakortikale Transplantation nach der
     Methode von Doktor Awanessow.«
    Das klang rätselhaft, aber überzeugend.
    Er atmete gierig durch die Nase ein. Es roch nach Kaliumpermanganat und Seife. Alles war seltsam und neu, selbst das eigene
     Atmen. Der Körper gewann an Gewicht, an Schwere, und irgendwo tief drinnen, im Knochenmark,erwachte der Schmerz. Er saß in den Beinen, kroch bis zur Leibesmitte und wurde schwächer. Dann begann schmerzfreies Gebiet.
     Der Rest war heil.
    Das Rollbett blieb stehen. Der weiße Flur endete in einer grell erleuchteten Sackgasse.
    Die Augen waren erschöpft vom Licht, die Lider schwer, die Decke schwankte und entschwebte. Sergej hörte neue Stimmen, nun
     wie aus der Ferne, obwohl er begriff, dass sie ganz nah waren, und spürte, wie er umgebettet wurde. Er versuchte sich zu bewegen,
     den Arm zu heben, aber sein Körper gehorchte ihm nicht.
    »Zappel nicht so rum, ich muss den Tropf anbringen«, sagte die vertraute Frauenstimme direkt neben seinem Ohr. »Du bist im
     Hospital, auf der Intensivstation.«
    »Was ist mit mir passiert?«
    »Es ist jedenfalls vorbei. Jetzt ist alles in Ordnung.«
    »Erzähls mir«, bat er, nur mit Mühe die Zunge bewegend, »wie bin ich hierhergekommen? Was ist das für ein Hospital?«
    »Na schön.« Sie setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett. »Reden darfst du noch nicht, aber zuhören schon. Ich werde
     reden, und du versuchst einzuschlafen. Gut?«
    Er schloss zustimmend die Augen.
    »Du lagst im Koma, du hast eine schwere Operation hinter dir. Das Schlimmste ist überstanden. Du solltest dich freuen wie
     ein Kind. Sie haben dich quasi Stück für Stück wieder zusammengeflickt. Anfangs war gar nicht daran

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