Gewitterstille - Kriminalroman
sich weiter durch den Wust von Gegenständen arbeitete. Die Ärmel seines weißen Oberhemdes hatte er ebenso aufgekrempelt wie seine helle Anzughose. Er lachte, als Emily seine nackten Füße kitzelte, und revanchierte sich gleich darauf bei seiner Tochter, die vor Vergnügen laut quietschte. Wieder einmal musste Anna feststellen, wie sehr Emily ihrem gut aussehenden Vater glich. Schon jetzt war zu erahnen, dass sie einmal ein bildhübsches Mädchen werden würde. Sie besaß Georgs kluge dunkle Augen ebenso wie seine hohen Wangenknochen und die schmale, markante Nase, die Georg sein aristokratisch anmutendes Äußeres verlieh.
Dann fiel Annas Blick wieder auf das Chaos aus überdimensionierten Plastikteilen und den riesigen Karton auf dem Fußboden.
»Woher hast du dieses Monstrum? Und was zum Teufel soll ich damit?«, rief sie aus.
»Wieso du?«, gab Georg ungerührt zurück. »Diese Küche ist nicht für dich, sondern für Emily. Das gehört zur unverzichtbaren Grundausstattung.«
»Zur Grundausstattung? Falls es dir entgangen sein sollte, Emily ist erst ein Jahr alt, und die Kinder auf dem Karton dort sind mindestens vier.« Anna deutete auf die Verpackung und begann, die Plastikhüllen aufzusammeln und in den leeren Karton zu werfen. Georg zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht mehr, wo ich mit dem ganzen Krempel hinsoll, den du uns dauernd anschleppst. Wir brauchen wirklich noch keine Küche für Emily. Ich hatte überhaupt keine Küche als Kind und bin auch zurechtgekommen.«
Anna setzte eine betont strenge Miene auf, konnte sich jedoch ein Schmunzeln nicht verkneifen. Georg blickte sie herausfordernd an.
»Das bestätigt mir, dass ich mit diesem Einkauf goldrichtig liege. Dann wird Emily mit etwas Glück vielleicht eine bessere Köchin als du. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, ein Mädchen in die richtige Richtung zu lenken«, sagte er mit einem Zwinkern.
»Sehr witzig. Ganz ehrlich, Georg, ich habe überhaupt keinen Platz für dieses Ding.« Anna konnte anhand der Größe der Bauteile erahnen, welche Dimensionen das Spiel zeug haben würde, wenn es erst einmal aufgebaut war. Und ganz abgesehen von der Größe fand sie auch den lila Farbton des Monsters einfach grauenvoll.
»Emily und ich finden schon einen Platz dafür. Wir könnten ja den riesigen Kleiderschrank in Emilys Zimmer gegen einen kleineren austauschen. Ach, entschuldige – dann hättet ihr ja nicht mehr genug Platz für die unzähligen Kleider, die du für Emily und dich kaufst, denn die braucht ihr natürlich dringend.« Georg lächelte ver schmitzt. »Auf wie viele Kleider kommt ihr wohl gemeinsam? Hundert? Zweihundert?«
Emily ersparte Anna einen Rechtfertigungsversuch.
»Nicht, Emily!«, schrien Anna und Georg gleichzeitig, als ihre kleine Tochter eine Menükarte mit lautem Krachen durchbrach.
»Nein«, stöhnte Georg.
»Ab!«, entgegnete Emily stolz und streckte die kaputten Teile triumphierend in die Höhe.
»Emily findet offenbar auch, dass sie noch keine Küche braucht«, sagte Anna trocken, bevor sie das Thema wechselte.
»Wo ist überhaupt Sophie?«
»In ihrem Zimmer. Sie wollte telefonieren.« Georg verzog das Gesicht.
»Na und? Teenager telefonieren immer.«
»Nicht alle Teenager. Weibliche Teenager telefonieren immer den ganzen Tag. Und warum tun sie das?« Georg ließ ihr keine Gelegenheit zu antworten. »Weil sie noch nicht genug Geld haben zum Schuhekaufen. Wenn sich das irgendwann ändert, telefonieren sie nur noch den halben Tag.«
»Ich schau mal nach ihr«, sagte Anna lachend und wand te sich ab. Das Zusammenleben mit Sophie gestaltete sich um einiges komplizierter, als Anna es sich anfangs vorgestellt hatte. Und das lag nicht nur daran, dass Sophie von Geburt an behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen war. Daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Aber Sophie war gerade erst achtzehn geworden und hatte die Pubertät offenbar noch längst nicht hinter sich gelassen. Zudem war es schwer für sie, ohne ihren Vater zurechtzukommen, der vor nunmehr knapp zwei Jahren tragisch verunglückt war. So lautete jedenfalls die offizielle Version zu den schrecklichen Geschehnissen jener regnerischen Nacht. Nur Anna wusste, was damals wirklich geschehen war. In einem Anfall von Eifersucht und Wahnsinn hatte Sophies Vater einen Mordanschlag auf Anna verübt und war dabei selbst zu Tode gekommen. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, Sophie diese grausame Wahrheit zuzumu ten. Und was spielte
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