Gewitterstille - Kriminalroman
einfach umwerfend. Und obwohl er für sie unerreichbar schien, konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken. In ihr lebte ein winziger Funke Hoffnung, dass er anders war als die anderen. Dass er – wenn auch nur vielleicht – imstande war, mehr in ihr zu sehen als das blonde pummelige Mädchen mit den viel zu dicken Brillengläsern.
Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Nach der Schule wollte ihre Tante sie abholen und mit ihr auf den Weihnachtsmarkt in der Altstadt gehen, den sie so sehr liebte. Ihre Mutter war weggefahren, aber sie würde die Nacht nicht allein mit ihrem Vater verbringen müssen. Tante Gerda würde sie mit zu sich nach Hause nehmen, das Gästezimmer sei schon für sie hergerichtet, hatte sie am Vorabend am Telefon gesagt. Petra träumte davon, gemeinsam mit Juliane über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, der jährlich rund um das Rathaus, in der Fußgängerzone und auf dem Koberg stattfand. Sie liebte das Rathaus, das mit seiner Schaufassade an der Südwand und seinen Türmen und Windlöchern besonders im Winter wie ein Märchenschloss aussah. Wie schön wäre es, Juliane, die nicht aus Lübeck kam, die Stadt zu zeigen und mit ihr durch die verwinkelten Gassen um St. Petri zu streifen. Eine Freundin, die mit ihr kichern würde, wenn sie sich vorstellten, mit Christoph auf dem Weihnachtsmarkt unter einem Mistelzweig zu stehen. Beschwingt ging sie die Treppe der Oberschule am Dom hinauf.
Sie betrat als eine der Ersten an diesem Morgen den Klassenraum und ging direkt zu ihrem Platz. Vorsichtig nahm sie das Paket aus ihrem Ranzen und befreite es behutsam von dem Handtuch. Ihre Augen glitzerten angesichts ihrer Vorfreude, die sie bei dem Gedanken empfand, das filigrane weiße Pferdchen, das sie mit so viel Liebe ausgewählt hatte, zu verschenken. Juliane liebte Pferde genau wie sie. Bestimmt würde sie vor Freude und Entzücken aufspringen und sich überschwänglich für das großzügige Geschenk bedanken, sobald Petra sie wissen ließ, wem sie das Pferd zu verdanken hatte. Der Klassenraum füllte sich rasch. Unter der Anleitung der Lehrerin verwandelte er sich binnen Minuten in einen weihnachtlichen Festsaal. Petras Augen wanderten über die zu einer Tafel zusammengerückten Tische. Die Anordnung der sternförmigen Lebkuchenteller, Tannenzweige und Tee lichter schien ihr in diesem Jahr besonders schön. Der Raum wurde von einem betörenden Duft aus Lebkuchen, Tanne und Kerzenwachs erfüllt. Endlich war es so weit, und sie nahmen an der Ta fel Platz, bereit, sich von dem weihnachtlichen Zauber einfangen zu lassen. Petras Wangen glühten. Christoph und Juliane saßen ganz nah beieinander auf der gegenüberliegenden Seite ihres Tisches. Ihre Klassenlehrerin, Frau Dr. Hagentreu, legte den Zeige finger auf die Lippen, und das fröhliche Stimmengewirr wich dem vereinzelten Tuscheln und Flüstern der Jugendlichen.
»Da wären wir also«, sagte die Lehrerin feierlich und schlug das dicke Buch auf, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Ich habe wie in jedem Jahr eine Weihnachtsgeschichte mitgebracht, die ich euch vorlesen möchte, bevor wir die Geschenke verteilen.«
Petra ignorierte das unwillige Grunzen einiger der Jungen, die dieses Ritual inzwischen furchtbar langweilig fanden. Sie selbst liebte Märchen und Geschichten nach wie vor und ließ sich von ihnen nur allzu gern davontragen. Nur heute fiel es ihr schwer, dem Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern zu lauschen. Sie nippte an ihrem heißen Tee, der ihre Hände wärmte, und ihre Gedanken kreisten um Christoph und Juliane. Endlich bat Frau Dr. Hagentreu den Klassensprecher, das erste Geschenk auszuwählen und weiterzugeben. Jeder von ihnen hatte die Aufgabe gehabt, entweder selbst ein Gedicht für den Beschenkten zu schreiben oder ein Gedicht aus einem Gedichtband auszuwählen, und selbstverständlich sollte niemand das Geschenk übergeben, das er selbst gekauft hatte. Theo wählte eines der größeren Pakete, zog ein Briefchen aus dem Einband und las:
»Arne hat ’ne Banane, lang wie ’ne Platane.«
Die Jungs in der Klasse brüllten vor Lachen und schlugen sich auf die Schenkel. Frau Dr. Hagentreu schwante spätestens jetzt, dass ihr Aufruf, Gedichte zu verfassen, sein Ziel kräftig verfehlt hatte. Die Weihnachtsstimmung wich dem Gejohle pubertierender Halbstarker. Arne wickelte wiehernd vor Lachen eine Packung Prince Denmark aus, die von Frau Dr. Hagentreu prompt konfisziert wurde. Jetzt war es an ihm, das nächste Geschenk
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