Gewitterstille - Kriminalroman
dass sie nicht mehr am Leben war.
Dr. Jung ließ den Stift sinken, mit dem er gerade den Totenschein ausfüllte, und stand von seinem Sessel auf. Der sympathische Hausarzt, den gerade die älteren Damen in der Gegend sehr schätzten, reichte Anna die Hand.
»Guten Morgen. Sie sind Frau Lorenz, richtig?«
Anna nickte nur und versuchte den dicken Kloß hinunterzuwürgen, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Auch wenn zu erwarten gewesen war, dass Frau Möbius aufgrund ihrer langjährigen Erkrankung nicht mehr allzu viel Zeit vergönnt gewesen war, traf Anna ihr Tod unvermittelt heftig. Zugleich tröstete es sie, dass ihre Nachbarin ganz offenbar genau so gestorben war, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Der wuchtige Sessel im Wohnzimmer war stets ihr Lieblingsplatz gewesen. Trotz der Blässe sah sie beinahe noch genauso aus wie am Tag zuvor, als sie Anna von ihrem Briefkasten aus zugewinkt hatte. Nun bedauerte Anna, die an dem Morgen mit Emily im Buggy auf dem Weg zum Einkaufen an Frau Möbius’ Haus vorbeigeeilt war, nicht wenigstens ein paar Worte mit ihr am Zaun gewechselt zu haben. Sie hatte die alte Dame gemocht, die immer Bonbons für die Kinder aus der Nachbarschaft in der Tasche gehabt und sich nie über deren Lärm beschwert hatte.
»Mein Gott, das kommt jetzt so plötzlich. Gestern habe ich sie noch vor dem Haus gesehen und gedacht, dass sie richtig gut aussieht.«
Anna musste zur Seite treten, als zwei schwarz gekleidete Herren eine Bahre in den Raum trugen und sie für den Abtransport der alten Dame vorbereiteten.
»Tja, seien wir froh, dass man derartige Dinge nicht vorhersehen kann, Frau Lorenz. So einen Tod kann man wirklich jedem alten Menschen nur wünschen. Sie ist offenbar ganz friedlich eingeschlafen. Trotz ihrer Krankheit ging es ihr letztendlich in Anbetracht ihres stolzen Alters einigermaßen gut, und das Letzte, was sie im Leben gesehen hat, war nicht irgendein Altenheim oder ein Krankenhaus.«
Anna nickte. »Das denke ich auch. Vermutlich hat ihr diese fürchterliche Hitze ordentlich zu schaffen gemacht, oder?«
»Ich gehe davon aus, dass die drückenden Temperaturen sicher ihr Übriges getan haben. Die Hitze ist für ältere Menschen, die zudem noch wie Frau Möbius kein allzu starkes Herz haben, selbstverständlich eine große Belastung.«
Anna nickte und blickte ein letztes Mal auf den leblosen Körper. Außer dem Ticken der schweren Wanduhr im Wohnzimmer war nichts zu hören, während die Männer Frau Möbius auf der Bahre festschnallten. Dr. Jung hatte die weißen Untergardinen zugezogen, damit sich der Raum nicht so stark aufheizen konnte. Die schweren bordeauxfarbenen Samtüberhänge verliehen dem Wohnzimmer eine feierliche Würde. »Standen Sie ihr denn sehr nahe?« Dr. Jung sah Anna offenbar an, dass der Tod der alten Frau sie stärker mitnahm, als sie es selbst vermutet hatte, und nahm eine Packung Taschentücher aus seinem Arztkoffer. Anna griff danach, weil ihr jetzt wirklich die Tränen in die Augen stiegen.
»Nein, das kann man so nicht sagen. Aber ich habe sie als Nachbarin sehr geschätzt. Ab und zu haben wir uns am Gartenzaun unterhalten, und ich habe ihr manchmal mit den Einkäufen geholfen. Es ist einfach furchtbar traurig, wenn jemand stirbt, den man gekannt hat.«
Dr. Jung lächelte freundlich und legte Anna für einen kurzen Moment tröstend die Hand auf die Schulter. Für ihn als Hausarzt gehörte es selbstverständlich zur Routine, Totenscheine auszufüllen und Angehörigen und Freunden von Verstorbenen Mut zuzusprechen. Er wirkte nicht unbeteiligt, aber dennoch abgeklärt genug, um nicht allzu stark emotional berührt zu werden.
»Mir ist irgendwie ganz schwindelig«, sagte Anna leise. »Ich kann sie gar nicht mehr anschauen.«
Der Arzt, der gerade begonnen hatte, seine Tasche wie der einzuräumen, sah auf. »Sind Sie nicht Staatsanwältin?«
»Doch, doch, das bin ich. Ich muss aber gestehen, dass ich mir die Bilder in den Obduktionsberichten nur wenn es zwingend nötig ist näher anschaue und mich ansonsten lieber auf die Schriftlage konzentriere.«
Sie blickten den Männern nach, die Frau Möbius auf ihrem letzten Weg aus ihrem Haus begleiteten.
»Wer hat sie denn überhaupt gefunden?« Erst jetzt fiel Anna ein, dass der junge Mann vom Pflegedienst eigentlich hätte dort sein müssen.
»Das war ich.«
»War denn der Pflegedienst heute nicht hier?«
»Offenbar nicht. Es ist ja noch recht früh, vielleicht kommt noch jemand.«
»Ich wusste
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