Gewitterstille - Kriminalroman
merkwürdiges und schwieriges Mädchen«, begann Frau Martin. »Ich war damals noch nicht mit Luise, also mit Frau Möbius, befreundet, aber man hörte natürlich so einiges in der Nachbarschaft.«
»Was hörte man denn so?«
Frau Martin überlegte einen Moment. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen das alles erzählen darf. Ich meine, ich weiß nicht, ob Luise, Gott hab sie selig, damit einverstanden wäre.«
»Nun machen Sie mich aber wirklich neugierig, Frau Martin. Sie können sicher sein, dass ich alles, was Sie mir erzählen, für mich behalten werde.«
»Ach, wissen Sie, Petra Kessler war als Teenager schwer krank, was auch für niemanden zu übersehen war. Sie litt an Magersucht. Ich weiß nicht, wie oft sie als junges Mädchen in der Klinik war. Luise hat sich furchtbare Sorgen um ihre Tochter machen müssen.«
»Denkt man gar nicht, dass sie so krank war, bei der netten Mutter.«
Frau Martin zuckte mit den Schultern. »Was soll’s? Luise wird wahrscheinlich nichts mehr dagegen haben, wenn ich es Ihnen erzähle, und Sie sind ja hoffentlich nicht der Mensch, der in der Nachbarschaft alles ausplaudert.«
Frau Martin beugte sich ein wenig vor, als gelte es, ein besonders wichtiges Geheimnis zu schützen. Dann flüsterte sie: »Es ist gespenstisch, dass Petra Kessler so viel Zeit in dem Haus verbringt.«
»Inwiefern gespenstisch?«
»Die Leute sagen, dass der Geist des alten Möbius im Haus herumspukt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Frau Möbius hat nie darüber gesprochen, weil sie sich ein Leben lang Vorwürfe gemacht hat.«
»Was denn für Vorwürfe?«
»Ihr Mann war sehr krank. Heute würde man wohl von manischer Depression oder dergleichen sprechen. Viel leicht auch eine Form der Schizophrenie. Damals hat man sich mit psychischen Erkrankungen nicht so auseinandergesetzt.«
»Das mag sein.«
»Er hat sich im Gartenhaus erschossen. Luise hat es später abreißen lassen.«
»O Gott, das ist ja furchtbar.«
»Ja, das ist es. Und das ist leider nicht alles. Petra hat ihren Vater damals gefunden. Sie war noch ziemlich jung, als es passierte, vielleicht dreizehn oder vierzehn. Jedenfalls war ihre Mutter zu dem Zeitpunkt, als es passierte, gerade verreist.«
»Wie kann ein Mann so grausam sein und zulassen, dass sein eigenes Kind ihn findet?«
»Ich glaube nicht, dass er damit gerechnet hat. Soweit ich mich erinnere, sollte Petra an dem Tag gar nicht nach Hause kommen, sondern nach der Schule zu irgendeiner Tante gehen. Ich glaube, er hatte gewollt, dass Luise ihn findet, die an dem Tag von der Reise zurückkam.«
»Das ist ja fast genauso grausam, aber warum denn?«
»Warum er sich umbringen wollte? Er war krank und hatte einfach zu viel erlebt. Er gehörte zu den Männern, die Hitler beinahe noch als Kinder 1945 an die Front geschickt hat. Das hat viele von denen kaputtgemacht.«
Frau Martin nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Wasserglas. »Na ja, Petra hat wohl viel von ihrem Vater. Das war auch der Grund, weshalb Luise immer versucht hat, sie zu Therapien zu drängen, nicht nur, als das mit der Magersucht passierte.«
»Ist Petra Kessler denn auch depressiv?«
»Was für eine Erkrankung sie genau hat, weiß ich gar nicht. Luise hat nicht gern darüber gesprochen. Ich weiß aber, dass sie schon als Kind häufiger in Kliniken war und wohl auch schon versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Das dürfte erst ein paar Jahre her sein. Ich glaube, ihr Mann wollte sich damals von ihr trennen. Als sie in die Klinik kam, hat Petras Mann Kontakt zu Luise aufgenommen. Sie haben beide versucht, ihr zu helfen.«
»Ja, sie ist wirklich ein merkwürdiger Mensch. Erst hatte ich den Eindruck, sie hält es keine drei Stunden nach der Beerdigung ihrer Mutter in Lübeck aus, und plötzlich schien sie gar nicht mehr abreisen zu wollen. Wenn ich jetzt daran denke, dass ihr Vater dort gestorben ist, finde ich das richtig gruselig.«
»Und ich frage mich, warum ihr Mann sich so gar nicht hier blicken lässt. Luise hat mir gegenüber kurz vor ihrem Tod angedeutet, dass sie sich Sorgen um Petra macht, wegen ihrer Ehe.«
»Aber woher wusste denn Luise Möbius von den Problemen, wenn sie kaum Kontakt zu Petra hatte?«
»Zu Petra nicht, aber wohl zu ihrem Mann. Luise hat sehr darunter gelitten, dass Petra sich so von ihr distanziert hat. Ich glaube, Petra hat ihr unterbewusst übel genommen, dass sie und nicht Luise ihren Vater gefunden hat.«
»Verstehe.«
»Christoph Kessler und Luise saßen quasi im selben Boot,
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