Gezeiten der Liebe
Handschuhe reflektierten das Sonnenlicht. »Vertrau mir. Schau mal, was für prachtvolle Muscheln, und Blaukrabben noch und noch!«
Ethan warf einen Blick auf das Gewimmel im Drahtkorb und schätzte automatisch Größe und Anzahl der Meerestiere. Aber sein Interesse galt im Moment nicht dem Fang, jedenfalls nicht vorrangig. »Du willst, daß ich dir vertraue, aber du erzählst mir niemals etwas.«
Ray drehte sich um und schob sich die hellrote Mütze in den Nacken, unter der seine wilde Silbermähne hervorquoll. Der Wind spielte mit seinem Haar und wellte die Karikatur von John Steinbeck, die über seiner breiten Brust sein T-Shirt zierte. Der berühmte Schriftsteller hielt ein Schild in die Höhe, das aller Welt mitteilte, daß er Arbeit im Tausch gegen Naturalien biete. Sein deprimiertes Gesicht sprach Bände.
Im Gegensatz zu ihm strotzte Ray Quinn nur so von Kraft und positiver Energie. Die tiefen Runzeln in seinen geröteten Wangen taten dem Eindruck, den er bot, keinen Abbruch: ein mit sich und der Welt zufriedener vitaler Mann in den Sechzigern, der noch viele Jahre zu leben hatte.
»Du mußt deine eigenen Antworten, deinen eigenen Weg finden.« Ray lächelte ihm aufmunternd zu. Die Fältchen rings um seine strahlend blauen Augen vertieften sich. »So bringt es dir viel mehr. Du weißt ja nicht, wie stolz ich auf dich bin.«
Ethans Kehle brannte, sein Herz war schwer wie ein Stein. Dennoch legte er mit routinierten Handgriffen neue Köder in die Falle, bevor er den Blick auf die orangefarbenen Schwimmer richtete, die ringsum auf der Wasseroberfläche trieben. »Weshalb?«
»Weil du der bist, der du bist – Ethan Quinn.«
»Ich hätte dich öfter besuchen müssen. Ich hätte dich nicht so lang allein lassen dürfen.«
»Ach, Unsinn.« Ray winkte ungeduldig ab. »Ich war doch kein Pflegefall. Mein Gott, wie mich die ewigen Selbstvorwürfe nerven, daß du dich angeblich nicht genug um mich gekümmert hast! Du warst sauer auf Cam, weil er in Europa lebte, und auf Phillip, weil er nach Baltimore gegangen ist. Aber jeder gesunde junge Vogel wird einmal flügge und verläßt das Nest. Und deine Mutter und ich haben nur gesunde junge Vögel großgezogen.«
Als Ethan etwas erwidern wollte, hob Ray die Hand. Eine für ihn so typische Geste – der Professor, der eine zentrale wissenschaftliche Erkenntnis formuliert und keine Unterbrechungen duldet –, daß Ethan schmunzelte. »Sie haben dir gefehlt. Nur deshalb hast du dich so aufgeregt. Sie sind gegangen, während du geblieben bist und ihrer Gesellschaft beraubt warst. Aber jetzt hast du sie ja wieder, nicht wahr?«
»Sieht ganz so aus.«
»Und obendrein hast du noch eine bildhübsche Schwägerin hinzubekommen, du hast die Bootswerkstatt und das hier ...« Ray zeigte auf das Wasser, die auf und ab hüpfenden Schwimmer, das hohe, naßglänzende Seegras am Ufer, in dem unbeweglich ein Reiher stand, wie zur Salzsäule erstarrt. »Außerdem verfügst du über eine Eigenschaft, auf die Seth dringend angewiesen ist – Geduld. In mancher Hinsicht übertreibst du es damit vielleicht sogar.«
»Was soll denn das heißen?«
Ray stieß einen Seufzer aus. »Dir fehlt noch etwas ganz Bestimmtes zu einem erfüllten Leben, Ethan. Aber du wartest und wartest, erfindest immer neue Ausreden und rührst keinen Finger, um etwas daran zu ändern. Wenn du deine Hemmungen nicht bald über Bord wirfst, könnte es zu spät sein.«
»Was meinst du?« Ethan zuckte die Schultern und schipperte zur nächsten Boje. »Ich hab’ doch alles, was ich brauche und was ich mir wünsche.«
»Frag dich nicht, was dir fehlt, sondern wer .« Ray verdrehte die Augen, dann rüttelte er Ethan sacht an der Schulter. »Wach auf, Junge.«
Und er war aufgewacht, obgleich er noch die große, vertraute Hand seines Vaters auf seiner Schulter spürte.
Antworten auf seine drängenden Fragen hatte er nicht bekommen. Ein rätselhafter Traum. Nachdenklich ließ er sich mit seiner Kaffeetasse am Tisch nieder.
1. Kapitel
»’n paar prächtige Butterkrebse haben wir uns da an Land gezogen, Capt’n.« Jim Bodine pulte die Krebse aus der Falle und warf die ansehnlichsten Exemplare in den Wassertank. Die klappernden Scheren schreckten ihn nicht – die Narben an seinen breiten Händen waren der beste Beweis dafür. Er trug zwar die traditionellen Handschuhe der Fischer, die sich jedoch – wie einem jeder, der sich auskannte, bestätigen konnte – im Nu abnutzten. Und hatten sie erst
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