Ghosts 01 - Ghosthunter
versorgt und Sobo ins Bett gebracht. Ihre Großmutter lehnte es ab, Medikamente zu nehmen und behandelte stets alle Wunden und Infekte mit Kräutern und Tee. Doch als sie heute Morgen nicht einmal mehr ihre Misosuppe hatte löffeln können, hatte Chiyo es nicht mehr ausgehalten. Sie war vom Küchentisch aufgesprungen, hatte ein paar Yen aus der Zuckerdose geklaut und die nächste Apotheke aufgesucht.
Anstatt den Roller ordentlich abzustellen, ließ sie ihn einfach auf die Kiesauffahrt fallen. Sie hörte noch, wie die Plastiktüte mit den Medikamenten vom Gepäckträger auf die Steine fiel und die Tablettenpackungen und Salben herausrutschten. Chiyo hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern.
Ohne auf die Absperrbänder zu achten, eilte sie auf das Haus zu. Die kaffeetrinkenden Beamten wollten sie aufhalten, doch Chiyo war bereits zum Hintereingang gelaufen. Irgendwie gelang es ihr, im Laufen aus den Schuhen zu schlüpfen und die Schiebetür aufzustoßen. Sie fand sich in einem Wirrwarr aus Absperrbändern, Beamten und Markierungskarten wieder, die auf dem Boden des Wohnzimmers aufgestellt waren. Der Geruch von Räucherstäbchen, von Grillfleisch und verbranntem Holz stach ihr in die Nase. Schwer wie Nebel hing er in allen Räumen. Hatte Sobo das Essen auf dem Herd vergessen?
Das Schummerlicht, das ihre Großmutter so mochte, wurde von Blitzen zerrissen und Chiyo konnte durch die Papierwände einen Gerichtsfotografen erkennen, der ununterbrochen Fotos schoss. Er stand im Badezimmer.
Bei jedem Aufflammen des Blitzes fühlte sich Chiyo leichter. Wie schwerelos. Die Zeit wurde zu einem zähen Sirup, durch den sie sich mit aller Kraft kämpfen musste. Es war ihr, als kühle die dickflüssige Zeit ihre Haut. Sie fror zwar, fühlte sich aber dennoch auf eigentümliche Weise eingehüllt. Die Rufe der Polizisten drangen gedämpft in ihr Bewusstsein, während sie an der Küche und dem Wohnzimmer vorbei lief und die Badezimmertür erreichte.
Sie wollte das Bad gerade betreten, als der Fotograf heraustrat und ihr den Weg versperrte. Er griff nach ihrer Schulter, aber auch seine Bewegung erschien Chiyo unglaublich langsam. Der Mann trug einen Schnauzer und hatte sein Basecap falsch herum aufgesetzt, damit er besser knipsen konnte. Um seinen Hals baumelte eine teure Digital-Spiegelreflexkamera. Er schob sich vor sie, wollte sie abhalten, das Bad zu betreten und rief die Kollegen, doch Chiyo verstand nicht, was er sagte. Sie blickte in die Optik der teuren Canon und musste an den Helm denken, an Hitomi – die Pupille –, und an Sobos Sturz. Sie musste daran denken, wie Sobo gestern noch im Bett von dem Helm hatte erzählen wollen, doch dann sofort eingeschlafen war. Sie musste daran denken, dass sie Sobo zugedeckt hatte, wie Eltern ihr Kind zudecken. Verkehrte Welt.
Mit dem nächsten Schritt schob sie sich an dem Gerichtsfotografen vorüber und war nun selbst ganz Hitomi, ganz Auge.
Was sie sah, würde sie niemals in ihrem Leben vergessen.
Chiyo warf nur einen einzigen Blick in den kleinen, fensterlosen Raum. Dieser einzige Blick reichte, um sie gänzlich in den zähen Sirup der Zeit zu ziehen. Bevor Schultern sich vor sie schoben und Hände sie von allen Seiten packten, spürte sie schon, wie ihre Beine nachgaben. Sie taumelte zurück und hielt sich am erstbesten Beamten fest.
Tausend Schattierungen von Schwarz, schoss es ihr durch den Kopf. Das rote Holz war schwarz. Die weiße Badewanne war schwarz. Die gelbe Zimmerdecke war schwarz. Alles war schwarz.
Tausend Schattierungen von Schwarz.
Sobo war schwarz.
Sobo war tot.
Zusammengesunken, die Augenhöhlen zur Decke gerichtet, den Mund zum Schrei aufgerissen, lag sie verkohlt in der Badewanne.
Ein Mensch, ein Schatten. Ihr Gesicht war eine Fratze aus Asche. Das Feuer hatte ihre Arme gefressen, ihren Oberkörper bis auf die Knochen abgenagt. Nein, das war nicht ihre Großmutter. Das war ein Albtraum und gleich würde Sobo an ihrem Bett stehen und sie wecken. Sie spürte schon ihre Arme, die sich um sie legten.
„Sie sollten das nicht sehen.“
„Was?“, fragte Chiyo und hielt sich am Cordanzug des Beamten wie ein kleines Kind fest.
„Sie sollten das nicht sehen.“ Der Glatzkopf im Anzug versuchte, ihren Kopf an seine Brust zu drücken und sie durch den schmalen Flur zurück zur Haustür zu bugsieren, doch Chiyo wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie konnte neben der verkohlten Badewanne Hitomi und eine ihrer alten Batterieblöcke für den Roller auf dem Boden
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