Ghosts 01 - Ghosthunter
5.
Einen Moment lang durchflutete Ian ein ungeahntes Gefühl der Freude. Die beiden Killer hatten bestätigt, was er kaum noch zu hoffen gewagt hatte. Sein Großvater lebte. Doch würden sie ihn auch am Leben lassen, wenn sie ihn fanden?
Ian rieb sich die Rippen, die bei jedem Atemzug schmerzten.
Dummerweise wusste der Cowboy nun, dass er die Geister auch sah. Und wenn sein Großvater die Geister bereits sehen konnte und wenn Wesleys Gequatsche einen wahren Kern hatte, dann waren die Geister die Verbindung. Die Verbindung zwischen seinem Großvater, seinem Vater und ihm selbst.
War es möglich, dass sein Großvater am Philadelphia-Experiment beteiligt gewesen war?
Was, wenn der Mann mit der Nickelbrille und der langen Narbe, die angeblich von einem Duell stammte – die Geister gerufen hatte? Damals, 1943? Ian erschauderte. Angenommen, er hätte die Geister gerufen, wäre dann untergetaucht und später hätte sein Sohn da weitergeforscht, wo sein Vater aufgehört hatte und wäre durch die Visionen wahnsinnig geworden. Malt Bilder an die Wände, fühlt sich von Geistern verfolgt und verbrennt schließlich …
Ziemlich viele Wenns, dachte Ian. Doch tief in seinem Innern sagte ihm eine Stimme, dass es eine plausible Geschichte war. Die Puzzlestücke schienen sich zu einem Bild zu fügen.
Die Verbindung sind die Geister, grübelte Ian.
Du siebst sie auch. Es ist erblich.
Was sollte er nur tun? Jetzt, wo Zachary wusste, dass er die Geister auch sah, würden sie ihn nur noch erbarmungsloser jagen. Waren die beiden überhaupt Verbrecher? Oder arbeiteten sie am Ende gar für den amerikanischen oder britischen Geheimdienst? CIA, FBI oder MI6? Sollten sie zur Polizei gehen? Oder nach Hause fahren?
Ian schwirrte der Kopf. Er griff nach Bpms Handy, das auf dem Nachttisch lag, und drehte es in der Hand. Dann gab er sich einen Ruck und wählte die Nummer seiner Mutter.
Er horchte auf das Tuten und musste an den muskulösen Kerl denken, an seine kräftige Hand, die sich um seinen Hals gelegt hatte. An den Pitbull, der die Zähne gefletscht hatte.
Tuuuut … Tuuuut …
Dieser harte Blick, während Zachary einfach mit Peters Motorrad dastand und dennoch auf sie zugerast kam. Grell und leuchtend im Scheinwerferlicht.
Untergetaucht, meinst du wohl.
Tuuuut … Tuuuut …
Dein Großvater kann sie sehen.
Tuuuut … Tuuuut …
Es ist erblich.
Tuuuut … Tuuuut …
Ich sehe sie schon seit meiner Kindheit.
Tuuuut … Tuuuut …
Ich bin anders als Bpm. Ich bin anders als alle.
„Guten Tag. Dies ist der Anschluss der Familie Boroughs. Wenn Sie einen Zahnarzttermin vereinbaren wollen, …“
Er lauschte. Reglos und stumm. Nur der Anrufbeantworter.
Ich bin ein Freak.
„… wenden Sie sich bitte an meine Praxis. Wir sind zurzeit nicht da. Wenn Sie uns eine Nachricht hinterla–“
Ian legte auf. Er zog seinen Rucksack zu sich und kramte in der Seitentasche. Behutsam schlug er den bunt gefleckten Lappen auf und nahm die Taschenuhr seines Großvaters heraus.
Seelen in Flammen. Zeit in Unruh. H. D. Boroughs.
Das abgenutzte Metall fühlte sich warm an. Er strich mit den Fingern über die Gravur und öffnete den Deckel auf der Rückseite. Unter einem kleinen Mondkalender waren zwei Skalen mit ungeheurer Präzision in das Metall geritzt worden. Eine der Skalen war ein Halbkreis mit einer Einteilung von 0 bis 222. Die andere Skala war eine Säule, die nur in vier Abschnitte untergliedert war. Mehrere schwarze und blaue Zeiger, teilweise geschwungen und auf feine Zahnräder geschraubt, warteten bewegungslos unter und neben den Skalen. Ian hatte keine Ahnung, wie man die Zeiger zum Leben erweckte, hatte aber schon mehrmals versucht, sie aufzuziehen. Es war ihm nur geglückt, die normalen Zeiger der Uhr auf der anderen Seite in Schwung zu bringen.
Er steckte die Uhr zurück. Noch immer drang das Stöhnen seines Freundes durch die Badezimmertür. Ians Gaumen fühlte sich so trocken an, dass seine Zunge an seinem Unterkiefer kleben blieb. Seine Augen brannten und jeder einzelne Knochen tat ihm weh. Er wünschte sich eine Cola, doch er fand keine Kraft, um über den Parkplatz zum Automaten zu gehen.
Ian setzte sich auf die Bettkante und zog sein Skizzenbuch hervor. Nachdenklich blätterte er die Seiten durch: seine Manga-Studien. Die Posen der Superhelden. Die Skylines der Megacitys, die er nach Fotos aus dem Web gezeichnet hatte. Die Skizze des Wandbildes. Die Geister, die wie eine Welle auf seinen kleinen Vater
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