Fröhliche Wiederkehr
Die Frage, in welchem Zeitalter der Vergangenheit man gern gelebt hätte, ist zwar müßig, aber mindestens ebenso unterhaltsam wie andere Gesellschaftsspiele. Doch es sind nur ausgesprochen romantische Naturen — und auch sie nur zögernd und mit einem Katalog von Vorbehalten —, die es vorzögen, Zeitgenossen des jungen Goethe oder des Sonnenkönigs zu sein. Es ist zum Teil wohl auch eine Kostümfrage, aber ob man sich nun für den Wertherfrack oder für die Allongeperücke entscheidet, einiges aus der Gegenwart möchte man doch in die Vergangenheit mitnehmen, etwa das komplette Badezimmer, die chirurgische Abteilung des Kreiskrankenhauses und vielleicht auch noch den Zahnarzt. Zuweilen aber taucht auch eine andere Spielart der Frage auf, und manchmal stellt man sie sich selber: ob man noch einmal jung sein und sein Leben noch einmal von vorne beginnen möchte. Die Antwort, zumeist ein spontanes Nein, mag oft der Torheit der Frage an sich gelten, denn was soll’s, die Wasser des Flusses, die den Schwimmer heute tragen, sind eben andere als jene, in die er sich einst zu den ersten zappelnden Schwimmversuchen hineinwagte. Und doch, mit merkwürdiger Zähigkeit klopft die Frage immer wieder einmal an; und vielleicht verzögert man dieses Mal die rasche Antwort und stellt die Gegenfrage: wie jung? Den schmerzhaften Prozeß des Reifens möchte kaum jemand noch einmal durchstehen, auch nicht die Niederlagen und nicht die Zeit dumpfer Lebensangst, die manchen bis an die Pforte des dunklen Tores führte und einige Jugendfreunde die Schwelle überschreiten ließ. Gewiß war auch damals, als wir bald nach der Jahrhundertwende auf die Welt kamen und unsere Eltern fest davon überzeugt waren, daß wir eine herrliche und glänzende Zukunft vor uns hätten, diese Welt durchaus nicht in Ordnung. Doch sie war auch noch nicht aus den Fugen gegangen. Aber dann gerieten wir in den Orlog des Ersten Weltkrieges und in die Hungerjahre und in die Papierfluten der Inflation. Dann kam das Desaster der Wirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre, die große Arbeitslosigkeit, die verzweifelte Suche nach einer Existenz und schließlich jener schreckliche Strudel, der uns eine kurze Zeit nach oben zu wirbeln schien, um uns am Ende in Tiefen zu reißen, aus denen wir, wenn wir Glück hatten, gerade das nackte Leben retteten. Um Gottes willen, das alles nicht noch einmal! Wenn es mir aber vergönnt würde, das Rad der Zeit sechzig oder siebzig Jahre zurückzudrehen, ich glaube, zu den ersten zehn oder zwölf Jahren meines Lebens würde ich gern zurückkehren und sie gern noch einmal erleben. Und ich meine, die Reise in die Vergangenheit auf der wunderbarsten aller Zeitmaschinen, der Erinnerung, wird eine recht fröhliche Wiederkehr werden.
Geburtstage zu feiern war, besonders in späteren Jahren, nie meine Sache. Ich habe sie aber auch nie ganz übersehen können, denn meine Mutter brachte mich zur Welt, als sie ihren dreißigsten Geburtstag mit den Damen ihres Kaffeekränzchens festlich begehen wollte. Die Kaffeetafel mit dem schweren Sandkuchen, einem noch schwereren Mohnstollen und Mutters Spezialität, einer mit Arrak getränkten Biskuittorte, fiel also aus; mir aber brachte es Vorteile, die Feier durch mein etwas vorzeitiges und eiliges Erscheinen gestört zu haben, denn die Damen des Kränzchens fühlten sich fortan verpflichtet, auch mir ein kleines Präsent mitzubringen, Karamellen, Katzenzungen, Lakritzenstangen oder später, als mir ein dunkler Flaum unter der Nase zu sprießen begann, eine Schachtel Zigaretten. Besonders verwöhnte mich die ältere der beiden Schwestern Jüterbock, die in Königsberg eine bekannte Leihbibliothek besaßen und die Güter und den Landadel der ganzen Provinz mit literarischen Neuigkeiten versorgten. Die Bücher wurden in eigener Werkstätte mit braunen Lederrücken versehen und in dunkelgrüne, dauerhafte Kalikoumschläge gebunden. Wenn meine Mutter den verruchten »Prinz Kuckuck« von Otto Julius Bierbaum oder Spielhagens »Problematische Naturen« bekam, sahen die Bände zumeist schon ziemlich fettig aus, denn auch die Damen vom hohen Adel waren bei der Schweineschlachtung dabei und bereiteten das Brat ihrer Blut- und Leberwürste höchst eigenhändig. Der Grund für die besondere Verwöhnung durch die ältere der Schwestern Jüterbock lag daran, daß sie als junge Lehrerin eine Poliomyelitis durchgemacht und davon eine Lähmung beider Beine zurückbehalten hatte. Wir wohnten damals, mit dem Blick
Weitere Kostenlose Bücher