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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Betrogen hat. Darüber natürlich.«
    »Und Sie ihn, oder nicht?«
    »Das ist aber doch gar nicht der Punkt.«
    Bereits seit mehr als einem halben Jahr arbeitete sich der Ratgeber nun an ihrer Beratungsresistenz ab. Es war nicht immer ein mühseliger Prozess, aber, wie er erneut bemerkte, meistens. »Worum ging es noch bei dem Streit?« fragte er jetzt, um sie an der Problemtrance zu hindern, in die sie wieder zu geraten drohte.
    »Um unsere Tochter.«
    Eine junge Frau mit einem kleinen Pinscher kam vorüber. Sol Moscot drehte sich nach dem Hund um und sah sofort wieder aufmerksam nach vorne.
    »Ihre Tochter lebt in Berlin, nicht wahr?«, fragte er abwesend.
    »Im Augenblick nicht. Sie hat Probleme mit ihrem Freund und ist deswegen vorübergehend zu mir gezogen. Zu uns.«
    »Sie erzählten, sie stammt aus einer früheren Partnerschaft?«
    Sie passierten ein Eiscafé, das, wie es aussah, just an diesem Tag die Winterpause beendet hatte. Die Plastiktische und -stühle sahen ebenso neu aus wie das übrige Interieur; in den überquellenden Eiskübeln wartete die Eiscreme noch beinahe unberührt auf Käuferschaft.
    »Mein Mann kann sie nicht leiden«, schwafelte Frau Sudek weiter. »Und sie ihn auch nicht. Er war halt nicht immer nett zu ihr.«
    Thomas’ Gedanken begannen in Richtung des bereits hinter ihnen liegenden Eiscafés zurückzuschweifen; er brauchte nicht lange, um die Ursache dafür zu benennen: Frau Sudek lenkte das partnerschaftliche Loyalitätsproblem, um das es eigentlich ging, auf den für sie weniger bedrohlichen Konflikt zwischen ihrer Tochter und deren Stiefvater um, wodurch zwar ihr Selbstwert vorerst intakt blieb, das gemeinsame Kind allerdings trianguliert wurde. Er stellte fest, dass die Frau mehr und mehr Abneigung in ihm hervorzurufen begann. Vielleicht, so dachte er, würde er die Beratungen bald beenden müssen. Andererseits war es auch nicht so, dass sich neue Klienten bei ihm das Telefon gegenseitig in die Hand gaben. Die Zeiten waren schwierig. Außerdem gebot ihm seine Professionalität, die entstehende Abneigung gegen Frau Sudek eher als folgerichtige Reaktion auf ihre anhaltend fehlende Veränderungsbereitschaft zu deuten und sie damit dem gemeinsamen Prozess nutzbar zu machen. Daher versuchte er eine provokante Intervention: »Ich frage mich gerade, wie Ihrem Mann das gelingen konnte. Haben Sie Ihre Tochter denn nicht beschützt?«
    »Doch«, antwortete sie zu schnell, »natürlich habe ich das. Aber Sie kennen meinen Mann nicht. Er ist manchmal … ein Monster. Er hat es ja auch bei mir beinahe geschafft, aber –«
    Der Ratgeber warf einen Seitenblick auf Sol Moscot und verdrehte die Augen. Sol Moscot hechelte, hob eine Braue und blieb dann an der Straßenecke stehen, weil in diesem Augenblick die Fußgängerampel auf Rot umgesprungen war.

2
    Er lag im Bett des Pensionszimmers, das er für diese Nacht gebucht hatte. Sol Moscot schlief eingerollt am Fußende; durch das geöffnete Fenster drangen Hinterhofgeräusche. Der Koch des Restaurants, das an die Pension angrenzte, verscheuchte, während er geräuschvoll einen Müllsack entsorgte, ein streunendes Kleintier. Er sagte mit Akzent: »Schleich dich.« Durch diese Worte fühlte Thomas deutlich, dass er sich an einem bestimmten, genau lokalisierbaren Ort der Welt befand, und diese Eindeutigkeit wiederum vermittelte ihm für einen Moment das Gefühl von Geborgenheit. Dann ging der Moment vorüber.
    Er hatte seine Schuhe ausgezogen und die Socken. Bis zu seinem nächsten Termin hatte er noch zwanzig Minuten Zeit, sofern sich nicht ein Neukunde bei ihm meldete. Auf dem Gang schloss jemand sein Zimmer ab und ging weg. Es war Zeit, etwas essen zu gehen; er war hungrig. Doch Thomas war heute Abend nicht mehr danach, unter Menschen zu gehen. Er war müde. Er war –
    Er hatte Angst.
    Ja, das war wohl die eigentliche Erklärung, dachte er. Am Nachmittag, bei der Begegnung mit der Bettlerin am Schottentor, hatte er wieder jene Panik gespürt, die aufbrandete, wenn andere ihn mit ihrer leiblichen Präsenz bedrängten. Dann, später, nachdem die Beratung abgeschlossen war, hatte er sich in ein Café gesetzt. Sol Moscot hatte gezögert, als hätte er die Frage einbringen wollen, ob er sich das reiflich überlegt und wirklich für eine gute Idee befunden habe. Doch der Ratgeber hatte sich stark genug gefühlt. Frau Sudek hatte zum Schluss eine konstruktive Wende vollzogen und eingesehen, dass sie trotz des Betrugs, den ihr Mann mit ihr selbst an

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