Gib's mir
die ganze Welt erobern.
Negative Ionen, hatte mir mal jemand erklärt. Du atmest sie ein, wenn du am Strand spazieren gehst, und sie bewirken, dass du dich gut fühlst. Mag sein, es stimmt. Aber vielleicht war es auch der Anblick der tosenden Wassermassen, die so herrliche weiße Schaumkronen bildeten wie sonst nur in der Werbung für billiges Rasierwasser.
Oder aber, ich hatte ohnehin allen Anlass zum Glücklichsein. Ilya hatte recht: Dieser Sommer war einer, den ich nicht vergessen würde, und ja, es war wundervoll gewesen. Das meiste davon zumindest.
Aber andererseits war ich auch fast froh darüber, dass sich all diese schrecklichen Dinge wie Waffen und Schlägertypen und was sonst noch zu Ilyas Leben gehörte, in unser Spiel eingeschlichen hatten, um es zu zerstören. Immerhin hatte auf diese Weise keiner von uns «Tintenfisch» sagen müssen, weil es sonst zu langweilig geworden wäre oder weil einer von uns – wahrscheinlich ich – vom anderen mehr verlangt hätte, als dieser geben wollte. Immerhin wäre es ziemlich unwahrscheinlich gewesen, dass einer von uns Schluss gemacht hätte, weil ihm oder ihr der Sex zu abenteuerlich geworden wäre.
Und war es nicht genau das geworden, was ich mir am Anfang gewünscht hatte: eine Sommeraffäre?
Ich machte mir ein bisschen Sorgen darüber, was wohl mit Ilya geschehen würde. Ob er in Sicherheit wäre? Würde er die Sache mit Tony klarkriegen? Wo zum Teufel war Tony jetzt? Wäre ich wohl in Sicherheit?
Das wird die Zeit zeigen, dachte ich. Aber ich hatte das Gefühl, dass schon alles gut werden würde. Ich glaubte nicht, dass Ilya mich in einer gefährlichen Situation alleingelassen hätte. Und ich ging eigentlich auch davon aus, dass er wusste, wie er sich selbst durchbrachte. Immerhin schien es ihm ja bislang ganz gut gelungen zu sein.
Ich stapfte knirschend noch ein Stück weiter, während der Wind in mein linkes Ohr pustete. Der Strand war bedeckt mit glitschigem Tang, zerbrochenen Muscheln, verwitterten Holzplanken und den Hinterlassenschaften modernen Strandlebens: ein kaputter Kuli, eine verbeulte Getränkedose, ein Feuerzeug, noch eine Dose.
Ich habe ja Martin, dachte ich, und den werde ich wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit lieben, da wir inzwischen wieder dort angekommen sind, von wo aus wir mal gestartet waren: als einfach nur tolle Kumpel. Wir hatten am Abend zuvor noch miteinander geredet, ganz kurz nur, und er hatte sich köstlich amüsiert über das, was ich gemacht hatte, sagte mir, ich sei eine schreckliche alte Schlampe und dass wir bald mal wieder zusammen losziehen sollten, Bier trinken und uns darüber streiten, welches denn nun wirklich die leckerste Chips-Sorte ist. Er hat sich wieder eingekriegt, so viel ist klar. Er hat begriffen, dass wir als Freunde besser miteinander klarkommen als zu der Zeit, als wir ein Liebespaar waren.
Also ist bei Martin und mir alles wieder stabil und platonisch.
Ich begehre Ilya immer noch – in meinem Schoß mehr als irgendwo anders –, und ganz bestimmt werde ich unsere verruchten Sexspielchen vermissen. Aber er ist eben weg.
Und deshalb werde ich Luke ficken, der zwar irgendwie süß ist, mir aber nicht den Verstand raubt.
Ich wünschte mir, ich könnte das Beste aus allen drei Beziehungen in einen Mixer tun, und dann hätte ich, hui, alle Lust und Liebe dieser Welt auf einmal – und das auch noch hübsch verpackt.
Aber dann dachte ich wiederum, vielleicht wäre ich auch noch gar nicht bereit für so was. Ich bin erst dreißig, und während viele Leute in meinem Alter schon etabliert, gesetzt und eingestaubt wirken, möchte ich lieber nicht so sein.
Ich möchte noch ein bisschen was erleben. Und sowieso, wenn ich den Richtigen treffe, würde ich wahrscheinlich wollen, dass er mich mit seinen Freunden teilt. Natürlich nur, wenn er nette Freunde hat.
Mein Blick fiel jetzt auf ein kleines knochenweißes Stückchen Strandgut, und ich bückte mich, um es lächelnd aufzuheben.
Auf der einen Seite sah es aus wie der schlecht manikürte Fingernagel einer Riesin, während die gewölbte Unterseite aussah wie das Zeugs, das man nimmt, um Blumenarrangements reinzustecken, lauter Löcher und Schlitze.
Oje, wie schrecklich symbolisch, dachte ich und drehte das Ding in meiner Hand. Ich glaube nämlich, das war ein Stück von einem toten Tintenfisch, der Knochen nämlich, den sonst immer die Papageien kriegen. Sauber hingekriegt, lieber Gott.
Ich steckte es in die Tasche meiner Fleece-Jacke und ging
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