Giftspur
Hilfe brauche.
Einige Sekunden später setzte der Doppelsitzer auf der Landebahn auf.
Für den Fluglehrer, der seit Wochen auf eine schneefreie Wiese und entsprechende Thermik gehofft hatte, ging eine vielversprechende Schnupper-Flugstunde zu Ende. Er hatte die interessierte Städterin ohne allzu große Eingriffe manövrieren lassen, und sie hatte sich dabei auch nicht dumm angestellt. Für Sabine Kaufmann jedoch zählten nur die letzten Minuten. Das Thema Segelfliegen, eine fixe Idee, mit der sie seit geraumer Zeit schwanger gegangen war, war für sie an diesem Vormittag gestorben.
Vermutlich endgültig. So wie der Tod es nun einmal an sich hat.
Stunden später, als Sabine nach einem ausgiebigen Marsch durch die kalte, klare Luft mit puterroten Wangen in ihren alten Ford Focus sank, verspürte sie ein Brummen in der Magengegend.
Hunger,
diagnostizierte sie zunächst, doch da war noch etwas anderes. Tief im Inneren ihrer Jack-Wolfskin-Jacke meldete sich die Zivilisation.
Fünfhundert Höhenmeter weiter unten, siebzig Kilometer entfernt.
Die Kommissarin verspürte keinen Groll. Ihr Bewegungssoll hatte sie erfüllt, und jeder Weg, der sie auf sicheren Boden zurückführte, war ihr recht.
Trotzdem ist mein freier Tag.
Sabine Kaufmann blickte auf eine vergleichsweise lange Karriere im Polizeidienst zurück, denn sie hatte seit ihrer Jugendzeit nie etwas anderes werden wollen als Polizistin. Nach dem Abitur folgten die üblichen Instanzen der Ausbildung, irgendwann war sie beim berüchtigten Sittendezernat gelandet und hatte das Frankfurter Rotlichtmilieu besser kennengelernt, als sie es je wollte. Ein immerwährendes Hamsterrad, zuerst kam die Gewalt, in der Regel gegen Frauen, die sich nicht zu wehren vermochten. Dann die Angst. Vor einer Aussage, vor der Abschiebung – die Hintermänner wussten, wie sie ihre Schäfchen lammfromm hielten. Und dann neue Gewalt, um sicherzustellen, dass die Gefügigkeit blieb. Ab und an gelang es einem Mädchen, sich daraus zu befreien, auszubrechen, doch das war die große Ausnahme. Nennenswerte Verurteilungen erfolgten trotzdem nicht, denn am Ende erklärte sich doch kaum eine Frau zu einer Aussage bereit. Wenn, dann erwischte es ohnehin nur Handlanger, denn die Zuhälter verbargen sich gekonnt und blieben somit unantastbar. Gepaart mit dem nötigen Schmiergeld eine bombensichere Angelegenheit, denn es war kein Geheimnis, dass der Main nur ein Fluss sekundärer Bedeutung war. Dollar und Euro bildeten das Elixier, welches die Stadt pulsieren ließ. Sabine Kaufmann verband mit jener Zeit nicht viele positive Erinnerungen, ihre gewachsene Menschenkenntnis und Erfahrungswerte wollte sie allerdings nicht missen.
Sobald sich eine Gelegenheit bot, wechselte sie zur Mordkommission, wo sie sich die vergangenen fünf Jahre verdingt hatte. Etwas anderes als das Polizeipräsidium Frankfurt hatte sie noch nicht kennengelernt, Hessens modernstes und größtes Präsidium, und es war ihr nicht leichtgefallen, die Mainmetropole zu verlassen. Doch es gab einen Menschen, der sie zurzeit mehr brauchte: Hedwig Kaufmann, ihre Mutter. Hedi litt unter einer Persönlichkeitsstörung, deren Zyklen in den vergangenen Jahren kürzer und vor allem tiefgreifender geworden waren. Zudem war sie geschwächt von jahrelanger Trunksucht. Es bedurfte keiner intensiven, aber einer regelmäßigen Begleitung, und sonst gab es niemanden, der das hätte übernehmen können. Sabine Kaufmann hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als eine Stelle in Bad Vilbel ausgeschrieben wurde, der Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo ihre Mutter noch immer lebte. Sie hatte eine Wohnung auf dem Heilsberg gefunden, die größer und heller war als ihre Frankfurter Bude und von deren Balkon sie hinüber auf die Skyline blicken konnte. Im Großen und Ganzen also stand nicht alles zum Schlechten, wenn man es genau betrachtete.
Das Handy.
Sabine las die SMS , welche ihr verriet, dass sich der verpasste Anrufer mit einer Sprachnachricht auf der Mailbox verewigt hatte. Sie tippte den Touchscreen kurz an, die Verbindung wurde aufgebaut und gleich wieder unterbrochen. Stirnrunzelnd musste sie feststellen, dass der Empfang gen null ging.
Laut diversen Bemerkungen, die man im geologischen Informationszentrum aufschnappen konnte, übte der Vogelsberg, dessen Basalt mit einem hohen Eisengehalt angereichert war, eine gewisse Magie auf die Dinge aus.
Verwechselte da jemand Geologie und Theologie?
Magnetischer Berg blockiert
Weitere Kostenlose Bücher