Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
eigentlich seine ranghöchste Spionin am Hof dieses Erzengels war. Allerdings hatte Jason seine Zweifel daran, wie effizient sie auf Dauer wirklich sein würde. »Samira«, sagte er, sobald der Anruf entgegengenommen wurde. »Was ist passiert?«
»Eris ist tot.« Ein gedämpftes Flüstern. »In seinem Palast ermordet.«
»Wann?«
»Ich weiß es nicht, aber gefunden wurde er vor einer Stunde. Neha weicht nicht von der Seite des Toten. Mahiya ist bei ihr.«
Jason hatte noch nie persönlich mit Mahiya gesprochen. Aber weil er damals, als Neha sie vor etwas mehr als dreihundert Jahren adoptiert hatte, diskrete Erkundigungen über sie eingeholt hatte, wusste er, dass sie Nehas Blutlinie entstammte. Das Wissen um ihre Verwandtschaft war hinlänglich bekannt, die Fakten dahinter jedoch waren lange verborgen geblieben. Selbst viele von Nehas eigenen Höflingen wollten sich nicht erinnern, wollten die Wahrheit nicht sehen: dass Mahiya von Nehas Schwester Nivriti zur Welt gebracht worden war, und diese war schon so lange tot, wie ihr Kind lebte.
Das war noch kein so furchtbares Geheimnis … solange man den Namen von Mahiyas Vater nicht kannte.
Eris.
2
Obwohl Mahiya aus der verbotenen Beziehung zwischen Eris und Nivriti hervorgegangen war, wurde sie von ihrer Tante allem äußeren Anschein nach wie eine geliebte Prinzessin behandelt. Der Titel war eine höfliche Geste, die ihren Status als Nehas Verwandte kenntlich machen sollte. »Gibt es sonst noch etwas?«
Für eine Minute wurde Samiras Atem sehr leise, und Jason wartete, ohne zu unterbrechen, ab, weil er wusste, dass sie darauf bedacht sein musste, nicht belauscht zu werden. »Neha ist halb wahnsinnig«, sagte sie schließlich. »Ich mache mir Sorgen, dass sie ihre Macht entfesseln könnte.«
Da er wusste, wie tief Nehas Gefühle für ihren Gemahl waren – so tief, dass sie ihm seine Untreue nie verziehen und ihn auch nach Jahrhunderten der Gefangenschaft nicht freigelassen hatte –, teilte Jason Samiras Besorgnis. Denn Neha war ein Wesen von unermesslicher Macht. Wenn sie ihrem Leid Ausdruck verlieh, konnte sie Städte in Schutt und Asche legen, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde sie ihren Zorn gegen jene richten, die sie für einen anderen furchtbar schmerzhaften Verlust verantwortlich machte: für die Hinrichtung ihrer Tochter Anoushka.
Raphael hatte den letzten Schlag ausgeführt, unter dem Nehas Tochter zu Staub zerfallen war.
»Gib mir Bescheid, sobald sie sich rührt.«
Als er auflegte und über die Grünanlagen blickte, sah er die Angehörigen der Braut und die anderen Gäste ins Haus gehen, um das gewiss exquisite Frühstück einzunehmen, das das stolze Hauspersonal unter der würdevollen Leitung des Butlers Montgomery zubereitet hatte. Im Sonnenlicht glitzerten die goldenen Fasern in Raphaels schneeweißen Flügel. Sire.
Raphael zögerte keine Sekunde, seine Miene verriet nichts. Was gibt es, Jason?
Eris ist tot. Ermordet. Raphael hatte miterlebt, wie Eris um Neha geworben und sie für sich gewonnen hatte, und musste daher wissen, welche pervertierten Gefühle die beiden miteinander verbanden.
Die Antwort des Erzengels fiel knapp aus. Komm in mein Arbeitszimmer.
Zwei Minuten später schlüpfte Jason vom Garten durch die Terrassentüren ins Arbeitszimmer, und zwar so verstohlen, dass ihn niemand dabei sah, obwohl die Sonne mit jedem Atemzug höher an den Himmel kletterte. So sollte es sein – es war sein Metier, nicht gesehen und nicht gehört zu werden; ein Schatten unter Schatten zu sein. Nach sechs Jahrhunderten war seine Position als Raphaels Meisterspion kein Geheimnis mehr für die Ältesten unter den Unsterblichen, doch dieses Wissen nützte ihnen nichts und hatte sogar noch weniger Auswirkungen auf Jasons Aktivitäten. Während sich die Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierte, fanden seine Agenten still und leise ihre Plätze an den Höfen und in den Türmen auf der ganzen Welt.
In diesem Moment betrat Raphael das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Schon nach Anoushkas Hinrichtung war Neha am Rande des Wahnsinns.« Die Worte des Erzengels ließen keine Zweifel zu. »Diese Sache könnte ihr den Rest geben.«
Jason hatte bereits erlebt, wie andere Erzengel auf verhängnisvolle Weise die Kontrolle verloren hatten, und war durch zerstörte Städte voller verwesender Leichen gewandelt; er hatte ein ganzes Land in einem dunklen Zeitalter versinken sehen, in dem alle Hoffnung erloschen und die Augen der Kinder
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