Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
verloren – ich wusste nicht, dass er so viel davon in sich hatte.«
»Es tut mir sehr leid, Neha. Er war dein Ehemann und Gefährte.« Es war eine feierliche Bekundung, von Erzengel zu Erzengel.
»Ja.« Wirbelnd und reißend kehrte der Wahnsinn zurück. »Außerdem war er der Vater meines Kindes, an dessen Ermordung du beteiligt warst«, zischte sie. So schnell, dass Jason es kaum erkennen konnte, veränderten sich ihre Augen für einen kurzen Moment und wurden dann wieder normal. Wieder fühlte er sich an ihre Schlangen erinnert.
Raphael ging nicht auf diese Anschuldigung ein und erinnerte Neha auch nicht daran, dass Anoushka ihr eigenes Todesurteil unterschrieben hatte, indem sie in ihrem Machtstreben ein Kind misshandelt hatte. »Du willst Gewalt üben, so viel ist klar«, sagte er, »aber anstatt wahllos um dich zu schlagen, wäre es nicht viel befriedigender, denjenigen zu foltern, der dafür verantwortlich ist?«
Neha wandte sich von der Kamera ab, um etwas aufzuheben, das wie eine junge Python aussah, und legte sich die Schlange um den Hals. Während sie das Tier streichelte, als wäre es eine Katze, setzte sie sich auf einen Stuhl, dessen helles Holz mit unendlicher Geduld geschnitzt, poliert und lackiert worden war, bis es wie ein Edelstein glänzte. »Du glaubst, ich bin verrückt«, sagte sie. Die Schlange hob den Kopf und prüfte die Luft mit der Zunge.
»Ich glaube, dass du trauerst. Und außerdem glaube ich, dass es eine feige Tat war.«
Ein träges Blinzeln, Nehas Finger verharrten auf dem glatten Leib der Python. »Wirklich?«
»Eris war nicht mächtig. Er war schön, wie es nur wenige Männer sind, aber er besaß wenig persönliche Stärke. Diese Tat sollte dich verletzen, dich kränken.«
»Mein armer Eris.« Ein weiteres zögerliches Streicheln. »Du hast recht. Ich kann niemandem in meiner Festung trauen, solange ich die Identität des Attentäters nicht kenne … aber wenn dein Meisterspion sie betreten soll, muss er sich mir verpflichten.«
»Das«, sagte Raphael mit einer Sanftheit, die der Zurückweisung den Stachel nahm, »kann ich nicht zulassen, nicht einmal in deinem Fall. Er ist einer meiner Sieben.«
»Du würdest ihn um den Preis von Tausenden Leben beschützen?« Eiskalt, rational und manipulativ – in diesem Moment war sie ganz der Erzengel von Indien.
»Loyalität legt man nicht so einfach ab wie einen Mantel.«
Aus irgendeinem Grund verzogen sich Nehas Lippen daraufhin zu einem beinahe echt wirkenden Lächeln. »So sehr bist du deinen Männern zugetan. An deiner Redlichkeit konnte ich nie etwas auszusetzen finden.« Ihr Lächeln veränderte sich, wurde unergründlich. »Also gut, dann muss es Mahiya sein.«
Diesmal war es Raphael, der zögerte.
Eris’ Kind mit Nivriti , erinnerte Jason den Erzengel, denn sie beide hatten nicht oft Anlass, über dieses Thema zu sprechen. Sie ist knapp über dreihundert Jahre alt.
»Einen so jungen Engel willst du mit Jason vergleichen?«, fragte Raphael.
»Nein, wahrlich nicht. Mahiya ist eine Zierde an meinem Hof, mehr nicht.« Der Erzengel ließ die Python über ihre blutigen Finger züngeln. »Aber wie der Welpe dir sicher mitgeteilt hat, stammt sie aus meiner Familie. Es wird genügen, wenn er ihr einen Blutschwur leistet.«
Raphael hielt Nehas Blick stand. »Ich werde mit ihm sprechen.«
Ihm zustimmend, neigte Neha majestätisch den Kopf, ehe sie das Gespräch beendete.
Die Flügel ordentlich auf dem Rücken zusammengelegt, wandte Raphael sich zu Jason um. »Im Moment scheint sie stabil zu sein, aber wer weiß, wie lange dieser Zustand dauert. Je mehr sie über den Mord brütet, desto gefährlicher wird sie.«
»Ich bin bereit, den Blutschwur abzulegen.« Es war ein altertümlicher Brauch, der selbst bei den Ältesten unter den Engeln nur selten praktiziert wurde – indem er Mahiya gegenüber einen Blutschwur ablegte, gehörte Jason gewissermaßen zu ihrer Familie und wäre dadurch verpflichtet, die Interessen dieser Familie wahrzunehmen. Dieser Brauch war unter anderem deshalb aus der Mode gekommen, weil er sich zu nahe an der Grenze zu erzwungener Intimität bewegte – denn in ferner Vergangenheit war mit diesem Schwur tatsächlich die intimste aller Beziehungen besiegelt worden.
Wie alle Gesetze und Traditionen der Engel war der Blutschwur jedoch eine weitaus raffiniertere Erfindung, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Zwar würde das zeremonielle Band selbst niemanden aufhalten, der betrügerische
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