Gildenhaus Thendara
redete. Wie konnte sie es ihrem Mann verübeln, wenn sie das Gleiche getan hatte? Aber sie hatte den Fehler begangen, Alessandro Li zu unterschätzen. Piedro dagegen würde vorgewarnt sein.
Wieviel weiß Piedro? Göttin! Ich wünschte, ich könnte mit Magda reden, dachte Jaelle.
Sie blieb an einem der hohen, auf den Raumhafen hinausgehenden Fenster stehen und warf einen Blick auf das große, blutdurchschossene Auge der untergehenden Sonne. Vielleicht blieb ihr genug Zeit, um durch die Straßen von Thendara zum Gildenhaus zu gehen und ihre Eidestochter zu besuchen… aber nein. Sie mußte zu diesem verdammten Empfang, und Piedro hatte sie heute morgen noch gewarnt, von dem eingeladenen Personal werde erwartet, daß es in großer Gala erscheine. Er hatte vorgeschlagen, sie solle die Personal-Service-Abteilung aufsuchen und sich das Haar machen lassen.
Schulterzuckend entschied sich Jaelle, genau das zu tun. Sie war sowieso neugierig darauf; es war ein Ritual, dem sich alle Frauen hier im HQ in kurzen Abständen unterzogen. Auch wußte sie, Peter würde sich freuen, wenn sie sich bemühte, für ihn schön zu sein. Und in den letzten paar Tagen hatte sie so intensiv in Alekis Büro gearbeitet, daß sie Peter nur gesehen hatte, wenn er schon schlief oder kurz vor dem Einschlafen war. Der Personal-Service war in dem gleichen Stockwerk wie die Cafeteria untergebracht und ganz in Rosa gehalten, eine Farbe, die Jaelle, unter einer roten Sonne aufgewachsen, angenehm und beruhigend fand. Sie hatte begonnen, an diese Zeit unter den Terranern als ein Abenteuer zu denken, etwas, das sie mit Stolz jungen Entsa
genden erzählen würde, wenn sie einmal alt und ans Haus gefesselt war. Sie steckte ihre Identitätskarte in die erste Maschine, und es leuchtete ein Zeichen auf: NEHMEN SIE PLATZ UND ENTSPANNEN SIE SICH, SIE WERDEN GLEICH BEDIENT. Sie las das Nachbild der Wörter - Zeichenlesen war eine Übung im Schnellesen. Für Jaelle war die Schrift immer schon verschwunden, bevor sie ihre Augen darauf eingestellt hatte. Sie nahm einen der bequem konturierten rosenfarbenen Sessel, wartete und dachte über die letzten Tage nach. Termine, Termine, Termine! Alessandro Li war sich schrecklich der Zeit bewußt, noch mehr als die durchschnittlichen Terraner, die schon in unglaublichem Ausmaß von der Uhr abhängig waren. Jaelle hatte Klatsch von den Frauen in der Kommunikation gehört. Bethany sagte, unter normalen Umständen hätte ein Funktionär im Rang von Alessandro Li nichts getan, sich nicht einmal ein Büro, um darin zu arbeiten, besorgt, bis der offizielle Empfang stattgefunden hätte. Er aber hatte sofort mit der Arbeit begonnen, und Jaelle hatte während der meisten Zeit bei ihm sein müssen. Sie fühlte sich ausgewrungen, als habe er jeden Tropfen ihres Wissens buchstäblich aus ihr herausgedrückt und - gequetscht. Und das war erst der Anfang. Es war soviel an Spannungen in den erwachenden Erinnerungen - denn sie hatte ihm und Kadarin Dinge erzählt, von denen sie nicht gewußt hatte, daß sie in ihrem Gehirn vorhanden waren. Abends in ihrer Wohnung lag sie lange wach, zu müde zum Schlafen. Der Kopf tat ihr weh, ihre Gedanken rasten, und wenn ihr die Augen endlich zufielen, war es auch schon wieder Zeit zum Aufstehen. Termine! Termine! Sie lebte von der Gnade eines Ziffernblatts, Zeit zum Arbeiten, Zeit zum Essen, Zeit zum Lieben!
Zu Hause hatte sie jemand zu Hilfe gerufen, wann immer sie etwas nicht allein tun konnte. Im Gildenhaus war keine die Dienerin einer anderen, aber die Frauen leisteten sich gegenseitig diese schwesterlichen Dienste. Es war nie schwer, eine Schwester zu finden, die einem half, das Kleid zu verschnüren, das Haar aufzudrehen oder zu schneiden, die mit Kosmetika oder Kleidern aushalf. Hier wurde anscheinend alles von Maschinen getan. Ein neues Zeichen leuchtete auf: SIE KÖNNEN JETZT EINTRETEN . Jaelle nahm allen Mut zusammen, wollte den rosenfarbenen Raum betreten und blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen.
Gestelle, die nach allen Seiten zu kippen waren, Sessel, die zu kippen und zu drehen waren, Klammern, um den Kopf festzuhalten, Gurte, um das Opfer zu fesseln… Ihr wurde dunkel vor den Augen, und sie mußte sich an der Tür festhalten. Einen Augenblick lang war sie wieder ein Kind, zurück in den Wahnsinnsjahren vor dem Beginn ihres wirklichen Lebens, ein Kind, das heimlich an die Tür eines verborgenen Raums gekrochen war, um einen Blick hineinzuwerfen, ohne zu ahnen, daß es ihres
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