Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
Prolog
M ein Name ist Evie Johnson. Ich bin sechzehn Jahre alt und Stipendiatin der Abteischule Wyldcliffe für junge Damen. Ja, ich spreche von der berühmten Schule, die sich in den öden Moors verbirgt, wo der Wind seufzend über die Hügel streicht und unter einem weiten, ruhelosen Himmel das Heidekraut blüht. Alle haben von Wyldcliffe gehört. Alle erklären mir, wie glücklich ich mich schätzen kann.
Was möchten Sie sonst noch wissen? Meine Lieblingsfächer sind Geschichte und Englisch. Im Sport ist Schwimmen die Disziplin, in der ich am besten bin. Ich liebe italienisches Essen und heiße Schokolade und das Geräusch der Wellen am Strand. Mein Leben scheint also ganz normal zu sein. Wenn man von der Tatsache absieht, dass mein Freund Sebastian tot ist.
Sebastian James Fairfax. Neunzehn Jahre alt, dunkle Haare, blaue Augen, ein Lächeln wie ein Engel; ein Dichter, ein Philosoph, meine erste, meine einzige Liebe … Wunderschöner, wunderschöner Sebastian.
Wenn ich sage tot , dann meine ich damit nicht so was wie einen tragischen Autounfall oder eine furchtbare Krankheit. Ich spreche von etwas, das so anders ist, so über alle Maßen anders, dass Sie es sich nicht vorstellen
können. Sebastian ist tot, und gleichzeitig lebt er. Sebastian liebt mich, und gleichzeitig ist Sebastian mein Feind. Ich bin allein, aber ich habe meine Freundinnen – meine Schwestern.
Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass alles, was ich im letzten Term in der Schule erlebt habe, auch wirklich passiert ist, und dass meine Geschichte noch nicht zu Ende ist. Ich muss weitermachen bis zum Ende, wie immer das auch aussehen mag. Ich muss daran glauben, dass Sebastian mich nicht verraten wird.
Es gibt viele Arten von Verrat. Manche davon sind klein: ein unfreundliches Wort, das Lachen hinter jemandes Rücken, armselige Lügen. Und dann gibt es eine Art von Verrat, die einem das Herz bricht, die Welten zerstört und das kräftige, liebliche Licht des Tages in bitteren Staub verwandelt.
Eins
D ie Ferien waren zu Ende, und vor dem Fenster des kleinen Häuschens dämmerte der Wintertag kalt und grau herauf. Die kahlen Spitzen der vereinzelten Rosenbüsche in Frankies Garten waren von Frost überzogen. Morgen würde ich nicht mehr in diesem vertrauten Zimmer aufwachen, würde ich nicht mehr das Geschrei der Möwen hören, die über der Bucht ihre Kreise zogen. Morgen würde alles anders sein. Ich kehrte zur Schule zurück. Ich ging zurück nach Wyldcliffe.
Mein Koffer war mit Geschenken vollgestopft, die Dad mir unbeholfen und liebevoll aufgedrängt hatte. Eigentlich hatte ich gar nichts haben wollen, aber er hatte darauf bestanden. Und deshalb befanden sich in meinem Gepäck neben meiner Schuluniform und meinen Schulbüchern und der Sportkleidung jetzt auch noch eine neue Kamera und eine ganze Menge teurer Utensilien für die Reitstunden, die ich — dazu hatte er mich überredet — nehmen würde, wenn ich wieder in Wyldcliffe war.
Es kam mir so vor, als hätte er versuchen wollen, damit den Schmerz zu lindern, den das erste Weihnachten seit Frankies Tod mit sich brachte. Meine Großmutter Frankie war die einzige Mutter gewesen, die ich je gehabt hatte; seit ich ein Baby war, hatte sie sich um mich gekümmert.
Jetzt war sie weg, und Dad versuchte, mir etwas Trost zu verschaffen, um mich den Verlust nicht ganz so spüren zu lassen. Noch ein Jahr zuvor wäre Frankies Tod überwältigend für mich gewesen; aber Wyldcliffe hatte mich verändert. Ich war jetzt stärker, nicht mehr nur ein Schulmädchen. Wyldcliffe hatte mich gelehrt, was Angst und Gefahren und Tod bedeuten.
Und es hatte mich gelehrt, was Liebe bedeutet.
Frankie war ein paar Tage vor Weihnachten beerdigt worden. Die Trauerfeier fand in der Kirche auf der Landzunge statt, umgeben von den Geräuschen des unter den Klippen seufzenden Meeres. Ich weinte nicht. Ich fühlte mich ruhiger als jemals zuvor, eingeschlossen in einem Kreis der Stille, als hätten das kleine Häuflein Trauergäste — Nachbarn und andere, die ihr Beileid bekundeten – und der Vikar und die Lieder und die Blumen gar nichts mit mir oder Frankie zu tun. Sie war gegangen, so wie ein Vogel in die Morgendämmerung davonfliegt, und alles Übrige war ein Ritual, das diejenigen beschwichtigen sollte, die zurückblieben. Aber Dad hatte es ziemlich mitgenommen. Nachher, als alle ihre Klischee-Sätze und Beileidsbekundungen von sich gegeben hatten und weggegangen waren, schnäuzte er sich die
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