Gletscherkalt - Alpen-Krimi
war einfach nicht die Art von Problemlösung, die ihm lag. So
etwas hatte ihm nie gelegen. Seine Spezialität waren Fälle gewesen, bei denen
ihm der Gesuchte allmählich vertraut geworden war. Dessen Handschrift er zu
lesen lernte. In dessen Welt und in dessen Psyche er nach und nach einzudringen
vermochte. Der Mann, der allem Anschein nach Spiss und Hellwage ermordet hatte,
war ihm jedoch immer fremd geblieben. Bei anderen Gewalttätern hatte er
bisweilen mit sich selbst gewettet: Welche Bücher sie lasen, welche Musik sie
hörten, welche Frauen sie bevorzugten (bei Sexualmördern hatte sich die letzte
Überlegung natürlich gar nicht erst gestellt; die Porträtfotos der Opfer waren
ja eine Art persönliche Schönheitsgalerie). Er hatte sich überlegt, wie sie
lebten. Ob sie in geordneten Verhältnissen daheim waren, vielleicht eine
Familie, Kinder hatten. Ob sie einem ganz und gar seriösen Beruf nachgingen,
Beamter vielleicht oder Schullehrer oder Tramfahrer, oder ob sie aus der
Halbwelt kamen. Noch bevor es Mode geworden war, sogenannte Profiler in
Untersuchungen mit einzubeziehen, hatte er sich die Profile selbst erstellt.
Mit nichts als halbwegs gesundem Menschenverstand und ein wenig Intuition als
Grundlage.
Vielleicht rührte seine Skepsis auch einfach daher, dass ihnen die
ganze Sache bis vor Kurzem wie Sand durch die Finger geglitten war. Die
Anhaltspunkte waren immer erst aus dem Nebel getaucht, wenn es zu spät war. Und
ehe sie es sich versehen hatten, war an einem anderen Schauplatz das nächste
Unglück geschehen …
Immerhin hatte sich in den letzten Tagen und Stunden ein Trichter
gebildet. »Trichter« war das Wort, das er während seiner aktiven Zeit dafür
immer gebraucht hatte: Am Anfang einer Ermittlung war da eine große Öffnung, in
die alle Informationen hineingeworfen wurden, allmählich verengte sich das
Ganze, bis es schließlich in einen dünnen Kanal mündete, der kein Ausweichen
mehr zuließ. Hosp und sein Team waren jetzt kurz vor Erreichen des Kanals oder
der Röhre, wie man eben wollte. Aus dem Gemisch von Fakten,
Ermittlungsergebnissen, Vermutungen, Intuitionen hatte sich, widerstrebend
zunächst, etwas nach unten abgesetzt, dorthin, wo das Ausweichen immer
schwieriger wurde, wo es kaum mehr Alternativen gab.
Man muss die Sau jetzt durch den Trichter jagen, dachte Schwarzenbacher,
und ihr dann, wenn sie rauskommt, das Bolzenschussgerät an den Schädel halten.
Schwarzenbacher hörte das leise Rauschen des Funkgeräts, das sich
Wasle vors Gesicht hielt.
»Wann geht er rein?«
»Jetzt«, sagte Wasle. »Genau in diesem Moment ist er ins Haus. In
den nächsten Minuten wird sich alles herausstellen: Ob du mit deiner Vermutung
richtigliegst, ob sich dort in der Wohnung der Mörder von Spiss und Hellwage
aufhält. Und ob wir alles in den Griff bekommen, ohne dass noch irgendetwas passiert.«
*
Die Stimmung auf der Kasseler Hütte war gedrückt. Die
Bergrettungsleute, Pablo und Marielle saßen auf der Terrasse, stärkten sich mit
einer Jause. Marielle rührte allerdings weder Speck noch Salami, nicht Käse
oder Brot an. Sie trank jetzt schon das zweite große Glas Wasser. Aber sie
hatte keinen Appetit, nicht den geringsten.
Die Bergretter hatten zuvor noch Tinhofers Ausrüstung aus seinem
Biwakplatz geholt, auch sein Handy hatten sie dabei gefunden. Die Leiche
Tinhofers war aus der Gletscherspalte geborgen und in einen stabilen schwarzen
Kunststoffsack verpackt worden. Der Tote hatte schlimm ausgesehen – sein
Anblick, vor allem für die jüngeren Bergrettungsleute schwer zu verkraften, war
eine bizarre Mischung aus Erfrierungstod und zertrümmertem Körper. Das Gesicht,
der von der gebrochenen Schulter verdreht abstehende Arm, die Kleidung, die
Beine – den Anblick des offenen Beinbruchs würde so leicht keiner mehr
vergessen – waren von einer hauchdünnen Frostschicht überzogen. Was dazu
geführt hatte, dass alle Farben, auch die leuchtenden des Anoraks, seltsam
pastellen wirkten und dass der entstellte Tote so weichgezeichnet im Schnee
neben der Einbruchsstelle lag, als wäre er für eine besondere Art von
Werbefotografie genau so ins Bild gesetzt worden.
Felix, der junge Bergrettungsmann, der die Nacht mit Pablo, Marielle
und seinem Kameraden oben in den Felsen verbracht hatte, saß Marielle gegenüber
und sah sie immer wieder an – mit raschen Blicken, dass sie es nicht merkte und
dass die anderen es nicht merkten. Er fand sie schön, sympathisch, anziehend.
Und er
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