Glückliche Ehe
war immer schon schlank –«, setzte Enrique an.
Max schüttelte den Kopf. »Nein, Dad. Du bist dünn, und du hast Fettpolster.« Max kniff wieder zu, schmerzhaft, und Enrique wand sich los. »Sorry«, sagte Max schnell. »Fettpolster sind Nahrungsspeicher, Dad. Man greift drauf zurück, wenn man am Verhungern ist. Mom hat keine mehr.«
Nach diesem Dialog wunderte sich Enrique nicht mehr darüber, dass Margarets aufregendste Unternehmungen nur noch darin bestanden, einen langsamen Spaziergang um den Block zu machen. Für eine Frau, die es genossen hatte, zügige Wanderungen zu unternehmen, stundenlang Tennis zu spielen oder in ihrem Atelier zu malen, Vormittageinspirationshalber im Metropolitan Museum und Nachmittage auf der Jagd nach Klopapier und Thunfischdosen bei Costco zuzubringen, ganze Tage in ehemaligen oder gegenwärtigen Schulen ihrer Söhne ehrenamtliche Arbeit zu leisten und mit anderen Müttern zu tratschen – für eine energiegeladene Frau wie Margaret, die schon vor Freude hüpfte, wenn man nur eine Unternehmung vorschlug, schienen die paar atemlos-wackligen Schritte kaum eine echte Aktivität.
Für Enrique war die PE wie ein Vollzeitjob. Zweimal die Woche wurden ihnen die nötigen Geräte und das Material nach Hause geliefert, immer pünktlich und vollständig, auch wenn Enrique jedes Mal nervös wartete und sofort hektisch die Kartons aufriss, um sich zu vergewissern, dass alles da war. In ihrem Schlafzimmer nahm das alles ein Wandstück von zwei Metern Länge und einem Meter Höhe ein, nachdem Enrique bei der Bürobedarfshandlung am Union Square ein halbes Dutzend stapelbarer Plastik-Aktenboxen gekauft hatte. Er warf die darin befindlichen Aktenordner weg, um in den Kästen die Beutel mit physiologischer Kochsalzlösung sowie die sterilen Schläuche, sterilen Handschuhe, sterilen Einmalspritzen, sterilen Verschlusskappen für die Plastikteile an Margarets Brustkorbport, Sterilisierungsstäbchen zur Reinigung des durchsichtigen Port-Klebepflasters und zahlreiche weitere Zubehörteile zu lagern und zu sortieren. Täglich zwei Müllsäcke füllten sich mit dem Abfall, die er zum Müllschlucker im Hausflur trug. Drei Kästen waren für die PE-Schläuche und die diversen Flaschen mit Antazida und Vitaminen, die Enrique in große, durchsichtige Tropfbeutel injizieren musste. Diese Kästen lagerte er in einem kleinen Kühlschrank von P. C. Richard in der Fourteenth Street, wo er dem Verkäufer freundlich zugenickt hatte, als der davon ausgegangen war, dass Enrique den Kühlschrank für das Studentenheimzimmer seines Sohns an der NYU kaufte. Mit dem Tropf und all den sterilen Packungen hatteihr Schlafzimmer so wenig von einem Schlafzimmer wie die Luxuskrankenzimmer im Sloan von einem Hotelzimmer.
Die Arbeit als PE-Pfleger war für Enrique stumpfsinnig und beängstigend zugleich: das ständige penible Händewaschen, das komische Gefühl der Handschuhe an den Händen, heiß und glitschig, das vorsichtige Hantieren, um nicht aus Versehen in den Beutel oder sich in den Finger zu stechen, wenn er die Zusatzstoffe injizierte oder die Schläuche befestigte, die ständige Gefahr, irgendetwas zu verunreinigen. Zahlreiche Schritte mussten absolut steril ablaufen, da Margaret sonst leicht vierzig Grad Fieber bekommen konnte. Er passte auf, obwohl er inzwischen nicht mehr fürchtete, dass eine weitere Infektion ihr Tod sein könnte – so wie am Anfang, als ihre Heilung noch eine realistische Möglichkeit gewesen war. Jetzt war das Ende unausweichlich und sehr nah. An irgendetwas musste sie sterben, weil Krebs nicht im Alleingang tötete. Er hatte Komplizen, warum also keine Sepsis? Wenn er trotzdem gerade eine Infektion als Todesursache fürchtete, dann deshalb, weil er nicht noch einmal mit ansehen konnte, wie Margaret fror und briet, wie ihre Augen stumpf wurden und sie leise um Hilfe flehte, während ihr Schweiß auf der Stirn stand und ihr Geist ins Delirium hinüberwankte.
Diesen Tod galt es zu vermeiden, dachte er, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, auf welchen Tod zu hoffen wäre. Das war ein Tabu, so streng einzuhalten wie nur irgendeins in Enriques Leben. Er dachte nicht an ihren Tod, stellte sich keine Zukunft ohne Margaret vor. Ihm war klar, dass sie sterben würde, und zwar bald, aber ihm war auch klar, dass er es nicht wirklich glauben konnte. Er hatte ein Jahr lang gewusst, dass sein Vater einem unheilbaren Krebsleiden erlegen würde, und mit dem Schock, der sein Tod dann dennoch für ihn
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