Glutroter Mond
ärgert mich.
»Ich werde mich am Freitag jedenfalls von meiner besten Seite zeigen«, sage ich trotzig. »Ich kann lesen und bin sehr gebildet. Es könnte mir einen Vorteil verschaffen.«
Jetzt hebt Neal seinen Kopf doch noch, aber sein Blick beschert mir einen Stich in der Brust. Er sieht nicht so traurig aus wie Carl, eher wütend, was mir einen Schreck einjagt.
»Du scheinst es ziemlich eilig haben, uns loszuwerden.« Die Kälte in seiner Stimme lässt mich zusammenfahren.
Ich fühle mich bedrängt. Natürlich möchte ich ihn nicht verletzen, aber er muss doch verstehen, dass ich ein solches Angebot nicht ablehnen könnte! Das Leben in der Welt der Obersten in ein Paradies. Es gibt nur diese zerstörte Stadt und den Bezirk jenseits der Brücke, den noch niemand von uns gesehen hat. Dahinter ist die Weltscheibe zu Ende. Wer würde freiwillig hier bleiben wollen, wenn er ins Paradies einziehen kann? Sollten sie mir das Angebot machen, werde ich es jedenfalls nicht ausschlagen.
»Du bist doch nur neidisch, weil sie dich damals nach deiner Untersuchung nicht benachrichtigt haben.«
Ich weiß, wie verletzend meine Worte klingen, aber immerhin hat er mir auch weh getan. Neal ist ein Jahr älter als ich. Als er im letzten Jahr zur Untersuchung gerufen wurde, bin ich auch traurig gewesen. Ich kann ihn verstehen. Lange habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich froh darüber gewesen bin, dass Neal nicht rekrutiert wurde. Natürlich bedeutet das nicht, dass er für immer in der Stadt bleiben muss. Manchmal rufen die Obersten auch ältere Menschen zu sich, aber aus welchem Grund, wissen wir nicht. Keinen von ihnen haben wir je wiedergesehen. Die jungen, die gerufen werden, arbeiten später manchmal in der Stadt bei der Essenausgabe oder in den medizinischen Stationen. Sie tragen dann schwarze Anzüge anstatt gelbe oder blaue. Aber geredet haben sie nie wieder mit uns.
»Ich soll neidisch sein?«, empört Neal sich. »Glaube mir, ich wäre damals nicht gegangen, wenn sie mich gerufen hätten. Deinetwegen.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht.« Meine Euphorie von gerade wandelt sich in Wut. »Außerdem hätten sie dir gar keine Wahl gelassen. Ich glaube nicht, dass man gefragt wird, ob man gehen möchte oder nicht.«
Tatsächlich weiß ich das nicht. Es kommt mir auch seltsam vor, dass jemand das Angebot freiwillig ablehnen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fall je eingetreten ist.
Neal funkelt mich böse an und stampft mit festen Schritten aus dem Gemeinschaftsraum. Die Tür hinter ihm fällt donnernd ins Schloss. Ich fühle mich schlecht und sehe Carl Hilfe suchend an, doch der lächelt nur traurig.
Kapitel drei
Holly
Alles in diesem Raum ist weiß. Die Wände, der Boden, die Stühle, die Tür. Es blendet mich. Ich kenne keine weißen Räume, in der Stadt ist alles schmutzig und grau. Ich habe sehr lange keine medizinische Station mehr von innen gesehen. Als ich zwölf Jahre alt war, litt ich tagelang unter schlimmer Übelkeit und Krämpfen. Ich habe damals gedacht, ich müsste sterben. Ich war der festen Überzeugung gewesen, mich mit dem Virus infiziert zu haben, das die meisten Einwohner meiner Stadt vor vielen Jahren getötet hat. Am dritten Tag ist Carl mit mir zur medizinischen Station gegangen. Ich habe kaum noch Erinnerungen daran, eher wie die Bilder eines Traumes, die einem entgleiten, je mehr man sie zu fassen versucht. Ich bekam schlimmes Fieber, nahm alles nur wie durch einen Schleier hindurch wahr. Aber ich weiß noch, wie Carl mich auf dem Arm in das weiße Gebäude getragen hat. Das strahlende Weiß hat sich in mein Gedächtnis gegraben, und ich fühle mich jetzt schmerzlich an meine Krankheit erinnert. Von diesem Tag an war weiß für mich stets die Farbe, die ich mit Unwohlsein verbinde. Sie haben mir Tabletten gegeben, die schrecklich geschmeckt haben. Ich lag auf einer Liege, über mich beugten sich mehrere Männer, deren schwarze Anzüge einen flirrenden Kontrast zu den Wänden bildete. Mir stellen sich die Haare auf meinen Unterarmen auf, wenn ich daran denke. Ich bin wieder ganz gesund geworden, aber meine Abneigung ist geblieben. Es war das erste und letzte Mal, dass ich eine medizinische Station besuchen musste. Bis heute. Aber heute ist der Anlass erfreulicher und ich ringe meine negativen Gefühle nieder.
Die medizinische Station ist ein flaches Gebäude mit nur einem Stockwerk. Ein ungewohnter Anblick für mich. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist leer
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