Glutroter Mond
bis auf ein paar Stühle, die an der Wand stehen. Es sind weiße Plastikstühle. Mir gegenüber hängt eine Uhr, weiß mit schwarzen Zeigern. Es ist sieben Uhr am Morgen. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, und auch jetzt verspüre ich keine Müdigkeit, nur grenzenlose Anspannung. Ich knete auf meinen Fingerspitzen herum, weil ich nicht weiß, womit ich meine nervösen Hände beschäftigen soll. Suzie ergeht es ähnlich. Sie sitzt rechts von mir und streicht sich schon zum hundertsten Mal mit den Fingern durch die langen blonden Haare. Fast befürchte ich, sie könnten ihr ausfallen, weil sie so sehr daran herumzieht. Mit ihrem linken Bein wippt sie auf und ab. Es raubt mir den letzten Nerv.
Suzie und ich sind die einzigen beiden Menschen im Wartezimmer. Ich habe erwartet, mehr Jugendliche bei der Erstuntersuchung anzutreffen und bin mir sicher, dass es noch andere geben muss. Ob man sie an einem anderen Tag oder zu einer anderen Uhrzeit herzitiert hat?
Mein Magen knurrt, ich habe Hunger, weil ich noch nichts gegessen habe, nicht einmal etwas getrunken. Carl meinte heute morgen zu mir, ich müsse nüchtern sein, wenn sie mir Blut abnehmen. Ich habe keine Ahnung, ob das weh tun wird. Ich kenne nur die Schilderungen meiner Mitbewohner. Carl hat nur gelacht, als ich ihn danach gefragt habe, und mir auf die Schulter geklopft. Ich habe gequält gelächelt und mich sogleich für meine dumme Frage geschämt. Ich darf nicht vergessen, weshalb ich hier bin und was mein Ziel ist. Dafür muss ich Opfer bringen. Ich möchte die Welt jenseits der Brücken sehen, und ein kleiner Pieks wird mich nicht davon abhalten. Ich hoffe inständig, dass sie mich für tauglich befinden werden. Weniger als jeder fünfte der untersuchten Sechzehnjährigen wird am Ende auch rekrutiert, deshalb darf ich mir keine zu großen Hoffnungen machen, um hinterher nicht enttäuscht zu sein.
»Was glaubst du, wie lange sie uns noch warten lassen?« Suzie flüstert, aber ich erschrecke trotzdem fürchterlich. Sie hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe wieder auf die Uhr. Nur fünf Minuten sind vergangen, seit ich das letzte Mal hingesehen habe.
»Ich weiß nicht. Aber ich hoffe, nicht mehr allzu lange. Ich verhungere.«
»Ich auch. Mensch, ich bin so aufgeregt! Nichts würde mich mehr hier halten, wenn die Obersten mich zu sich riefen.« Suzies Augen leuchten.
Ich kann es mir nicht erklären, aber in diesem Moment unterdrücke ich den Impuls, ihr ins Gesicht zu schlagen. Ich bin unfair und mir meiner gemeinen Gedanken bewusst, aber zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass es passieren könnte, dass man Suzie tatsächlich rekrutiert, während ich dazu verdammt sein würde, mein monotones Leben fortzuführen. Ich gönne es ihr nicht, obwohl ich mich schlecht dabei fühle.
Ich erwidere nichts, sondern nicke nur. Ich hoffe, sie hat meine Emotionen nicht in meinem Gesicht abgelesen.
Die Tür unter der Wanduhr gegenüber öffnet sich einen Spaltbreit. Eine dunkelhaarige Frau steckt den Kopf ins Wartezimmer. Mein Herz macht einen Sprung und meine Muskeln spannen sich an. Ich balle meine Hände so fest zu Fäusten, das sich die Fingernägel in meine Handflächen graben.
»Nummer 21-19 bitte in den Untersuchungsraum.« Die Stimme der Dame ist nüchtern und zeigt keinerlei Gefühle. Vermutlich ist es für sie Routine. Für mich ist es das nicht.
Ich spüre einen kleinen Stich der Enttäuschung in meiner Brust, als Suzie neben mir ein vergnügtes Quietschen ausstößt und von ihrem Stuhl aufspringt. 21-19 ist ihre Individuennummer, nicht meine. Sie würdigt mir keines Blickes mehr, als sie hinter der Ärztin im Raum gegenüber verschwindet und sich die Tür wieder schließt. Ich ringe mit den Tränen, obwohl mein Verhalten dumm ist. Was interessiert es mich, was Suzie tut? Ihr Leben geht mich nichts an, und würden wir nicht in derselben Kommune leben, würde ich nicht einmal etwas davon mitbekommen, ob sie rekrutiert wird oder nicht. Wir waren nie gute Freundinnen, nur Bewohner desselben Hauses. Anders verhält es sich mit Neal. Ich war so froh gewesen, als man ihn im letzten Jahr nicht zur Brücke gerufen hatte. Ob er sich dieses Mal ebenso wünscht, dass ich für untauglich erklärt werde? Einerseits macht es mich wütend, andererseits kann ich ihn verstehen. Es würde mir nicht leicht fallen, ihn zurückzulassen. Dennoch möchte ich nicht mein Leben lang auf den Augenblick gewartet haben, um Tränen zu vergießen, sollte er sich
Weitere Kostenlose Bücher