Glutroter Mond
niemand in der Stadt mehr besitzen sollte als ein anderer, kommt es dennoch manchmal vor. Neal hat mir erzählt, es gibt Treffpunkte für Schmuggler, die Dinge aus der Welt der Obersten in unsere Stadt schaffen und sie gegen andere Dinge tauschen. Ich bin nie mit solchen Leuten in Kontakt gekommen, und ich bin froh darüber. Neals Eltern hatten irgendetwas besessen, für das es sich gelohnt haben muss, sie zu töten. Flüchtig denke ich an die Konservendose. Hätte mein Verfolger mich deshalb auch getötet? Wegen einem wertlosen Ding, dessen Inhalt man nicht mehr essen konnte? Ein schauerlicher Gedanke.
Wir erreichen unser Wohnhaus. Neal drückt seinen Daumen auf den Scanner und die Tür lässt sich aufdrücken. Im Untergeschoss befindet sich sein Zimmer und das von Carl, oben sind der Gemeinschaftsraum und die drei Zimmer der Frauen. Wir gehen in stillem Einverständnis die Treppe hinauf und steuern auf den Gemeinschaftsraum zu. Carl sitzt allein auf seinem Platz, sein Kopf ist zur Seite gedreht. Er sieht aus dem Fenster. Als er uns bemerkt, fährt er herum.
»Wo seid ihr beiden schon wieder gewesen?« Sein Tonfall ist nicht anklagend, eher belustigt.
Neal und ich tauschen einen kurzen Blick. Wir haben geschworen, niemandem von dem Minimarket zu erzählen.
»Wir sind nur spazieren gegangen«, sagt Neal und klingt dabei sehr überzeugend. Ich entscheide mich, zur Bestätigung nur zu nicken, einmal und gewichtig. Carl lächelt breit, wobei sich die Falten noch tiefer in sein Gesicht graben. Er deutet auf die Tischplatte vor sich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ein Blatt Papier darauf liegt.
»Es ist jemand vorbei gekommen und hat jeweils einen Brief für Holly und Suzie abgegeben. Du warst leider nicht daheim, also musste ich schwören, dass ich ihn dir gebe. Ich glaube, er hat sich nur darauf eingelassen, weil ich schon so lange in der Kommune lebe.«
Ich starre auf das strahlend weiße Blatt auf dem Tisch. Es ist zusammen gefaltet, sodass ich nicht sehen kann, was darauf steht.
»Es hat jemand einen Brief für mich abgegeben? Einer von den Obersten?«
»Ja, natürlich, wer sonst? Suzie und du, ihr könnt beide lesen. Die anderen Jugendlichen werden persönlich abgeholt.«
Aufregung macht sich in mir breit, mein Herz schlägt schneller. Flüchtig sehe ich zu Neal herüber, um seine Reaktion einzuschätzen, doch er sieht eher missmutig als erfreut aus. Seine Stirn liegt in Falten.
Mit zitternden Hände greife ich nach dem Blatt. Ich kann mir denken, was darauf steht, und es macht mich so nervös, dass ich glaube, jemand würde in meinem Magen tanzen. Suzie und ich sind beide dieses Jahr sechzehn geworden. Das kann nur eines bedeuten.
Ich entfalte das Blatt, meine Augen zucken zunächst darüber hinweg, ohne ein Wort zu erfassen. Dann zwinge ich mich, ihn endlich zu lesen, und zwar so, dass ich auch die Bedeutung verstehe.
Individuennummer 4-19
steht ganz oben. Das bin ich!
Sie werden gebeten, sich am Freitag vor dem Frühmahl an der medizinischen Station links der großen Brücke einzufinden, um sich der Erstuntersuchung des diesjährigen Jahrgangs der Sechzehnjährigen zu unterziehen. Bei dieser Gelegenheit wird ihnen Blut aus der Armvene entnommen. Die Untersuchung wird zwecks einer Überprüfung zur Eignung zum Rekruten des Volkes V23 durchgeführt. Desweiteren wird ihr allgemeiner Gesundheitszustand erfasst, damit ggf. eine Medikamentengabe festgesetzt werden kann.
Der Brief ist nicht unterzeichnet, aber ein Stempel befindet sich darunter, der das Symbol der Obersten zeigt - einen siebenzackigen Stern.
Die Obersten nennen sich selbst das
Volk V23
, das weiß ich aus meinen Büchern, doch die Bezeichnung erscheint mir fremd. Leider wird in keinem Buch erklärt, weshalb sie sich so nennen. In der Stadt nennt sie jeder nur die Obersten.
Ich lege den Brief zurück auf den Tisch. Meine Hände sind ganz verschwitzt.
»Weiß Suzie es schon?«
Carl nickt. »Sie ist in ihrem Zimmer. Sie war ebenso aufgeregt wie du.«
Ich glaube, einen Hauch von Traurigkeit aus seiner Stimme herauszuhören, obwohl er sich offensichtlich Mühe gibt zu lächeln. Die Erstuntersuchung der Sechzehnjährigen! Das ist alles so aufregend! Vielleicht bedeutet dies endlich den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Wenn ich die Kommune verlassen muss, kann ich Carls Traurigkeit ein wenig nachvollziehen. Ich sehe zu Neal, doch er hält den Kopf gesenkt. Er sieht überhaupt nicht so aus, als würde er sich für mich freuen. Es
Weitere Kostenlose Bücher