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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Arzt.
    Â»Streuung«, sagte Johan.
    Und der Arzt wiederholte noch einmal, dass dies nicht zwangsläufig bedeute, was es in den allermeisten Fällen bedeutete. Das jedenfalls sagte er, wenngleich natürlich nicht mit diesen Worten. Es war ein sympathischer junger Arzt, der Johan von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Er wollte dem Patienten Zeit geben, die Diagnose zu verdauen, schließlich saß er da und besiegelte gerade das Leben eines anderen Menschen und hatte bestimmt in seinem Medizinstudium auch einmal etwas über Empathie gelernt, dachte Johan.
    Â»Wie lange, meinen Sie, habe ich noch...«, sagte Johan. »Dazu meine ich überhaupt nichts«, antwortete der Arzt. »Das ist höchst individuell und wie gesagt, es gibt gute Möglichkeiten.«
    Â»Aber im Schnitt«, unterbrach ihn Johan. »Wie lange kann jemand wie ich leben? Rein statistisch gesehen?«
    Â»Ich finde nicht ...«
    Johan unterbrach ihn erneut.
    Â»Wenn nicht ich hier sitzen würde, wenn ich nicht ich wäre, und Sie nicht Sie, wenn wir zwei zufällige Menschen wären, und Sie, der also nicht Sie wäre, darum
gebeten würden, sich ganz allgemein zu äußern ... ja, verstehen Sie ... was würden Sie dann sagen?«
    Â»Wie gesagt: Dazu möchte ich am liebsten überhaupt nichts sagen.«
    Johan schlug mit der Faust auf den Tisch.
    Â»Zeit, Mann! Geben Sie mir wenigstens eine ehrliche Antwort, geben Sie mir einen Anhaltspunkt. Geben Sie mir eine Zeit! Verstehen Sie?« Johan hielt dem Arzt seine Uhr vors Gesicht. »Ich will eine Zeit haben.«
    Der Arzt entzog sich nicht, sondern erwiderte Johans Blick.
    Â»Ein halbes Jahr, vielleicht mehr, vielleicht weniger«, sagte er. Und dann, nach einer Pause: »Aber wie ich schon sagte ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
    Es wurde still. Johan sah zu Boden, zupfte an seiner rechten Augenbraue, eine schlechte Angewohnheit, die er seit seiner Kindheit hatte und die seinem Gesicht etwas Schiefes verlieh, da er über dem linken Auge eine buschige Braue hatte und über dem rechten eine gezupfte. Er versuchte herauszufinden, was genau er empfand. Für die Worte des Arztes gab es kein Zurück, aber es waren, wie gesagt, Worte, keine Schläge oder Liebkosungen, und Worte brauchen länger, bis sie wirken. Das wusste er. Er spürte noch keinen Unterschied, er fühlte sich eigentlich ziemlich fit, er fühlte sich bereits seit etwa einer Woche fit, so fit wie schon lange nicht mehr. Nichts hinderte ihn daran, aufzustehen und das Arztzimmer zu verlassen.
Er könnte in die Stadt gehen, das Frühlingswetter genießen, vielleicht eine Buchhandlung aufsuchen oder einen Plattenladen, sich etwas kaufen oder einfach ein wenig bummeln und sich umschauen. Kein Mensch hatte das Gespräch mit dem Arzt mit angehört. Es könnte geheim gehalten werden. Und alles wäre wie früher. Es würde ihn aufmuntern, eine Runde durch die Stadt zu drehen, das Arztzimmer kam ihm heiß und stickig vor. Der Arzt roch nach Schweiß, das war Johan sofort aufgefallen, als er das Zimmer betreten hatte.
    Er erhob sich und sagte: »Ich bin verwirrt, ich muss jetzt gehen, wir sprechen uns später wieder.«
    Der Arzt nickte.
    Und dann sagte Johan: »Meine Frau hilft mir dabei. Mai hilft mir.« Und erneut dachte er an Mais Haare, die (und das war das Merkwürdige) glänzten, auch wenn es im Zimmer dunkel war.
    Â 
    Mai war Johans Frau. Seine Frau Nummer zwei.
    Seine Frau Nummer eins hieß Alice.
    In Stresssituationen wie dieser beim Arzt dachte Johan sowohl an seine Frau Nummer eins als auch an seine Frau Nummer zwei.
    Er versuchte, den Gedanken an Mai festzuhalten, aber irgendetwas in ihm zwang ihn, an Alice zu denken.

    Johan und Alice heirateten 1957. Damals war Johan fünfundzwanzig und Alice sechsundzwanzig. Zwei Jahre später bekamen sie ihren Sohn Andreas.
    Es war eine unglückliche Ehe. Viele Menschen klagen über eine unglückliche Ehe. Viele schreiben über eine unglückliche Ehe. Häufig wird eine unglückliche Ehe damit erklärt, dass zwischen den beiden Eheleuten eine große Stille entstanden sei. Das war jedoch mitnichten Johans und Alices Problem. Zwischen ihnen war nie, in keinster Weise, eine große Stille entstanden. Wäre es nur so gewesen, sagte Johan einmal. Die Ehe zwischen Alice und Johan war sehr laut. Es gab keine Stille.
    Wäre Alice nicht – nach

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