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Gnade

Gnade

Titel: Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Hand in ihre, befeuchtet die Haut auf seinem Oberarm mit einem Wattebausch und verabreicht ihm die Spritze mit dem Schlafmittel. Sie sieht, dass er einschläft und dass er keine Schmerzen mehr hat. Dass es gut ist. Und dann gibt sie ihm die Spritze mit dem muskellähmenden Mittel Curacit. Sie wartet ab. So schnell und doch unmerklich. Keine Veränderung im
Gesicht. Das Geschwür auf der Wange blutet leicht, das ist alles. Sie faltet die Hände und spricht ein Gebet, nicht, weil sie gläubig ist, und auch nicht, weil Johan es war, aber es scheint das Richtige zu sein in dem Moment.
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    Als sie das Zimmer verlässt und die Tür hinter sich schließt, holt sie etwas aus der Handtasche. Es ist ihr Handy. Sie wählt die Nummer der Stationsärztin Emma Meyer. Es ist keins dieser Gespräche, die man mit Entschuldigungen einleitet, dass man so spät anruft und das ganze Haus weckt. Auch wenn es spät ist. Sehr spät. Es ist nicht länger Nacht. Es ist Morgen. Bald wird es hell und Dr. Meyer lauscht dem, was Mai zu sagen hat. Dass sie bereit sei, sich bei der Polizei zu melden. Dass sie bereit sei, vor Gericht gestellt zu werden. Aber dass sie ihrem Gewissen gefolgt sei. Sie habe ihrem Mann ein Versprechen gegeben, und das Versprechen habe sie gehalten.
    Dr. Meyer sagt: »Er wäre ohnehin bald gestorben.« Mai beginnt zu weinen.
    Â»Ich werde es niemandem erzählen, Mai, wenn du es nicht tust.«
    Mais Stimme, überrascht, zaghaft: »Das wirst du nicht tun?«
    Â»Nein.«
    Â»Warum nicht?«
    Dr. Meyer wird still.

    Â»Du hast Johans Wünsche befolgt. Du hast ihn gekannt, ich nicht. Und auch niemand sonst wird, sollte es herauskommen, es richtig finden, dich zu verurteilen.«
    Mai hat nichts hinzuzufügen.
    Dr. Meyer sagt: »Wenn du bleibst, wo du gerade bist, komme ich sofort. Du solltest eine Tasse Kaffee trinken und eine Scheibe Brot essen. Anschließend solltest du nach Hause gehen und dich schlafen legen. Und dann, in ein paar Stunden, kann der Tag beginnen.«
    Mai nickt, wie kleine Kinder nicken, wenn sie telefonieren, nicht ahnend, dass der andere sie nicht sehen kann.
    Dr. Meyers Stimme noch einmal: »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
    Â»Ja.«
    Â»Kein Wort, Mai. Es hilft nicht, zu erklären ...«
    Â»Nein.«
    Â»Abgemacht?«
    Â»Ja.« «
    Â 
    Nach dem Telefonat geht Mai wieder zu Johan und setzt sich auf die Bettkante. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, aus dem Flur fällt Licht herein. Er sieht aus wie immer. Sie nimmt seine Hand und küsst sie, aber die Hand ist kalt und sie lässt sie schnell los.
    Sie sieht sich um.

    Es hatte keinen Sinn, hierher zu kommen.
    Was wollte sie eigentlich?
    Wollte sie noch einmal mit ihm sprechen?
    Wollte sie hören, dass er sagt, es sei gut, erlöst worden zu sein?
    Sie steht auf und geht zur Tür.
    Wäre er noch am Leben, würde er sagen: Ihre Schritte sind nicht schwer, aber sie ist müde. Unendlich müde. Wenn sie sich schlafen legt, ist sie müde, und wenn sie aufwacht, ist sie müde.
    Mai dreht sich nicht um, als sie die Tür hinter sich schließt.
    Es wird dunkel. Eine große Dunkelheit fällt über Johan Slettens Gesicht.
    Er würde sagen: Und deine Haare, Mai, sind an diesem Morgen schöner als an allen anderen.

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel
»Nåde« bei Oktober Forlaget, Oslo.
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    1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe November 2013
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2001 Linn Ullmann

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 Verlagsgruppe
Random House GmbH
Copyright © der deutschen Übersetzung 2004 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: semper smile München
Umschlagmotiv: © plainpicture / Readymade-Images
Druck und Einband: CPI – Clausen & Bosse, Leck
CP · Herstellung: sc
    ISBN 978-3-641-11226-4
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