Godspeed Bd. 2 - Die Suche
abtauen zu lassen.
Ich richte mich so weit auf, dass meine Augen auf gleicher Höhe mit denen meines Vaters sind, auch wenn seine zugeklebt und hinter einigen Zentimetern blaufleckigem Eis verborgen sind. Mit einem Finger fahre ich über die Box und folge seinem Profil. Das Glas, das durch die Wärme des Raums beschlagen ist, wird unter meiner Berührung ganz glatt und hinterlässt einen schimmernden Umriss in der Form seines Gesichts. Die Kälte dringt in meinen Finger, und einen kurzen Moment lang – nur für einen Sekundenbruchteil – muss ich wieder daran denken, wie ich zuerst die Kälte und dann nichts mehr gespürt habe.
Ich kann mich nicht erinnern, wie mein Vater aussieht, wenn er lächelt. Ich weiß, dass sich sein Gesicht bewegen kann , dass sich beim Lachen Falten um seine Augen bilden und seine Lippen zucken. Aber ich kann mich nicht daran erinnern und kann es mir auch nicht vorstellen, während ich ihn durch die Eisschicht anstarre.
Dieser Mann sieht nicht aus wie mein Vater. Mein Vater war voller Leben und das hier … ist anders. Ich nehme an, dass mein Vater irgendwo da drin ist, aber …
Ich kann ihn nicht sehen.
Die Kryo-Boxen rollen zurück in ihre Kammern und ich werfe die Türen mit einem Krachen zu.
Langsam stehe ich auf. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Hinter den Kryo-Kammern, am anderen Ende des Decks, gibt es einen Gang mit vielen verschlossenen Türen. Nur eine davon – die mit dem roten Farbfleck an der Tastatur der Zahlenkombination – lässt sich öffnen, aber durch das eingelassene Bullauge kann man die Sterne sehen.
Ich war schon oft dort, weil die Sterne dazu beigetragen haben, dass ich mich normal fühlte. Mittlerweile komme ich mir bei ihrem Anblick allerdings vor wie der Freak, für den alle an Bord mich halten. Und der wahre Grund? Weil ich die Einzige bin, die die Sterne wirklich vermisst. Von den zweitausendundnochwas Leuten auf diesem Schiff bin ich die Einzige , die weiß, wie es ist, im Garten auf dem Rasen zu liegen und die Hand nach den Glühwürmchen auszustrecken, die friedlich zwischen den Sternen herumschwirren. Ich bin die Einzige, die weiß, wie der Tag allmählich der Nacht weicht, statt einfach ein- und ausgeknipst zu werden. Ich bin die Einzige, die jemals die Augen so weit aufgerissen hat, wie es nur geht, und die trotzdem nur den Himmel gesehen hat.
Ich will die Sterne nicht mehr sehen.
Bevor ich das Kryo-Deck verlasse, kontrolliere ich, ob die Kammern meiner Eltern fest verschlossen sind. Auf der Tür meines Vaters sind noch Überreste eines Kreuzes zu sehen. Ich folge den zwei Farbstrichen mit den Fingern. Das war Orions Werk, der damit die Kammern der Leute markiert hat, die er als Nächstes umbringen wollte.
Ich wende mich ab und mein Blick wandert zum Genlabor jenseits des Fahrstuhls. Da drin ist Orions Körper eingefroren.
Ich könnte ihn auftauen. Es wäre nicht so einfach wie bei meinen Eltern, bei denen ich einfach nur den Reanimationsknopf drücken müsste, aber ich würde es schaffen. Junior hat mir den Unterschied der verschiedenen Kryo-Kammern erklärt, hat mir den Timer gezeigt, den ich einstellen müsste, um Orion wiederzubeleben, und auch, welche Knöpfe ich in welcher Reihenfolge drücken müsste. Ich könnte ihn aufwecken, und wenn er erwachen würde, könnte ich ihm die Frage stellen, die mich jedes Mal quält, wenn ich seine vorquellenden Augen hinter der Eisschicht sehe.
Warum?
Warum hat er die anderen Eingefrorenen getötet? Warum hat er meinen Vater als sein nächstes Opfer markiert?
Aber noch wichtiger: Wieso hat er jetzt mit dem Morden angefangen?
Vielleicht hat Orion wirklich geglaubt, dass das eingefrorene Militärpersonal die Schiffsbesatzung zu Soldaten oder Sklaven machen würde … aber wieso hat er anfangen, ihnen die Stecker herauszuziehen, obwohl es bis zur Landung noch eine Ewigkeit dauern wird?
Er hatte sich jahrelang vor dem Ältesten versteckt, bevor Junior mich aufgetaut hat. Er hätte im Verborgenen weiterleben können, wenn er nicht angefangen hätte, Leute umzubringen.
Also schätze ich, dass meine tatsächliche Frage nicht nur »Warum?« lautet, sondern …
Warum jetzt ?
3
Junior
Ich starre Marae mit offenem Mund an. »Was in aller Welt soll das heißen?«, bringe ich mit Mühe heraus.
Marae nimmt die Schultern zurück, richtet sich kerzengerade auf und wirkt dadurch noch größer. Mein Blick huscht zu den anderen Technikern, aber mir fällt auf, dass sie ihre Kollegen nicht
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