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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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schönste Po, den er seit langem gesehen hatte. Nur das Tattoo darauf hatte ihn gestört; chinesische Schriftzeichen, die ihn unweigerlich an die Speisekarte eines chinesischen Restaurants denken ließen. Aber es waren hinreißende Formen, die er ganz seinem Tastsinn überlassen hatte. Und dennoch wusste er: Es war wieder eine Nacht gewesen, die er bereuen würde.
    Die Erkenntnis kam, wie üblich, zu spät.
    Verstört setzte er sich auf. Im grauen, kühlen Licht, das durch das Dachlukenfenster in sein Schlafzimmer fiel, sah er, dass er allein war. Er versuchte nicht allzu erleichtert zu sein. Ihre blonden Haare hatten ihn ein wenig an Deirdre erinnert. Er hatte sie bei Ginny getroffen, aber ihr Name fiel ihm immer noch nicht ein. Ihr Verschwinden ersparte ihm zumindest die Peinlichkeit einer morgendlichen Unterhaltung.
    Auf dem Boden, nicht unweit seiner zerknüllten Jeans, lag ein dünnes ledernes Etwas. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte er sein Portemonnaie. Was ihm das Erkennen erschwerte, war der Umfang. Neil stand auf und fischte das dünne Lederding vom Boden auf. Leer. Nicht nur die Scheine, nein, auch die Kreditkarten. Er stutzte einen Moment lang, dann musste er lachen.
    Sie war wirklich hungrig gewesen.
    Das Lachen packte und schüttelte ihn und ließ ihn mit einem Gefühl der Erleichterung zurück. Eigene Dummheit. Im Grunde hätte er wütend sein müssen. Aber wie jedes andere intensive Gefühl seit Jahren ließ sich auch sein Ärger nicht einfach hervorkitzeln. Immerhin fiel ihm ein, dass er zumindest die Kreditkarten sperren lassen sollte. Er versuchte sich zu erinnern, wo er die Nummer der Bank gelassen hatte. Irgendwo in seinem Arbeitszimmer, in dem Haufen, der seinen Schreibtisch dekorierte, aber wo?
    Die Uhr neben seinem Bett zeigte ihm, dass es kurz nach neun war. Zu früh für irgendwelche Studenten, um unangemeldet bei ihm aufzutauchen, denn er hatte heute keine Termine vereinbart. Ohne sich anzuziehen, ging er in sein Büro hinüber, das wie sein Schlafzimmer direkt unter dem Dach lag. Matt hatte ihn für verrückt erklärt. Sich für viel Geld in diesem alten Haus einzumieten, das noch nicht einmal über eine vernünftige Klimaanlage verfügte, um dann im Sommer halb zu ersticken, erschien ihm so unlogisch wie das meiste, was Neil in der letzten Zeit tat.
    »Du vergisst, wo ich herkomme«, hatte Neil erwidert, und in dem übertriebensten Cajun-Akzent, zu dem er in der Lage war, hinzugefügt: »Für uns Jungs aus dem Süden wird es bei euch Eskimos nie richtig heiß, Mister.«
    Ganz im Gegenteil, dachte er jetzt, während er den Container unter seinem Schreibtisch hervorzog und in den Schubladen wühlte. Es war Februar, und in Neuengland lief das auf Schnee hinaus. Abdichtungen hin, Abdichtungen her, er bildete sich ein, den frostigen Wind sogar hier zu spüren.
    Die Schubladen waren eindeutig durchsucht worden, und nicht von ihm. Er fragte sich, warum er nichts, aber auch gar nichts gehört hatte, bis auf das leise Schnappen des Türschlosses, falls das nicht auch zu seinem Traum gehört hatte. So arbeiteten Profis. Sein Briefbeschwerer fiel ihm ein, und er schaute hastig auf die Tischplatte. Kein silberner Pelikan zwischen den Zetteln. Er unterdrückte einen Fluch, und langsam meldete sich der Ärger, auf den er die ganze Zeit gewartet hatte. Das war nicht irgendein Briefbeschwerer gewesen, sondern ein Geschenk zum Collegeabschluss. Sein Notebook, das er immer auf Reisen mitnahm, stand auch nicht neben dem Schreibtisch; wahrscheinlich würde er das Gerät auch sonst nirgendwo entdecken. Wenigstens war der reguläre Computer zu sperrig für das Miststück gewesen. Er überlegte, ob er irgendwelche Dateien auf dem Notebook hatte, die nicht auf dem Festgerät oder Disketten gesichert waren. Vorerst fiel ihm zu seiner Erleichterung nichts ein, aber bei seinem Glück würde sich das schnell ändern.
    Wenigstens fand er sein Adressbuch. Es enthielt zwar die Nummern fast aller Antiquariate von Cambridge, aber nicht die seiner Bank. Da ihm eindeutig die Lust fehlte weiterzusuchen, entschied er sich für den einfachsten Weg und rief Deirdre an. Ihre Nummern, die private, die ihres Büros und die ihres Handys, waren alle in seinem Telefon gespeichert; er brauchte sie nur abzurufen. Sie selbst hatte jede einzelne Nummer eingegeben, als sie die Kinder das erste Mal bei ihm allein ließ.
    »Ich kenne dich«, hatte sie gesagt. »Falls etwas passiert, will ich nicht, dass du mir später erzählst, du

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