222 - Angriff auf die Wolkenstadt
Die Seherin blinzelte in das gerinnende Blut, in die schillernde Fischblase. In glänzenden Gerinnseln und platzenden Blasen gewann eine schwarze Gestalt Konturen, eine schöne Frau, eine nackte Frau – die Königin. Ein junger Mann, hellhäutig und mit langem dunklen Haar, schlug sie nieder.
Breitbeinig stand er vor der zusammengekrümmt zu seinen Füßen Liegenden und streckte die Arme nach ihr aus. Aus seinen Fingern wucherten auf einmal dornige Ranken. Sie fielen auf die schöne nackte Frau, schlangen sich um ihre Beine, ihre Arme, um ihren ganzen Körper, hüllten ihn bald vollständig ein. Die Frau blutete, wand sich unter Schmerzen…
»Was siehst du?«, fragte die Königin, diesmal fordernder und mit schärferer Stimme.
»Ich sehe dich, meine Herrin«, krächzte die Alte. »Ich sehe dich auf den Armen deines künftigen Gatten. Er trägt dich durch ein Meer duftender Rosen.« Die Alte richtete sich auf.
»Du lachst, und dein Gatte bettet dich in einen mit Rosenblättern gefüllten Zuber.« Rauch und Dampf stiegen der Greisin in die Nase. Sie hustete. »Du herrscht über ihn, wie man über einen dressierten Monkee herrscht.« Die Seherin atmete schwer, hustete erneut und wandte sich an die Königin.
»Ja, o Herrin, das alles habe ich gesehen.«
Königin Elloa musterte ihre Seherin erstaunt. Die schwarze, bucklige Greisin mit dem zerknitterten Gesicht und den weißen Haaren hatte schon ihrer Großmutter und ihrer Mutter geweissagt. »Das hast du wirklich gesehen?«, fragte sie flüsternd.
»Das habe ich gesehen, meine Königin.« Die Alte nickte und hielt dem Blick ihrer Herrin stand.
Elloa stand auf, ging zum Zelteingang und schob den Vorhang ein Stück beiseite. Sie blickte hinaus auf das Heerlager am Ufer des Sees. Nach einem Marsch von mehr als drei Wochen war die große Armee unter ihrem neuen König Daa’tan vor drei Tagen hier am Westufer des Victoriasees angekommen. Nicht einmal hundertzwanzig Kilometer waren es noch bis zur Hauptstadt des feindlichen Kaisers, bis nach Wimereux-à-l’Hauteur. Drei, höchstens vier Tagesmärsche.
»Durch ein Meer duftender Rosen…?« Die Königin schüttelte ungläubig ihren Kopf. »In einen mit Rosenblättern gefüllten Zuber…?« Sie flüsterte und lächelte dabei. Natürlich hatte sie insgeheim auf eine gute Weissagung gehofft. Doch so gut…?
Der Rauch vieler Feuer stieg zwischen den Zelten auf. Die Krieger waren bester Dinge. Elloa sah Dutzende, die sich die Zeit mit Ballspielen vertrieben. Andere schlugen Trommeln und bliesen auf Flöten, und wieder andere tanzten zum Trommelrhythmus.
Zahlreiche Gruppen von Jägern kehrten aus dem Busch zurück; an Stangen trugen sie erlegtes Wild ins Lager. Kleine Rotten von Fischern führten Tsebras vom See zurück ins Lager. Körbe voller Fische hingen an den Tieren.
»Das ist eine gute Botschaft«, murmelte Elloa bei sich selbst, »das ist eine wirklich gute Botschaft…«
Die schwarze Grazie beugte sich ein Stück aus dem Windfang ihres Zeltes und spähte nach links. Dort, unter einem Pavillon aus gelbem Zelttuch, tagten Daa’tan, der neue König, und seine Obersten. Sie hockten auf Sitzkissen um ein auf Steine gelegtes, großes Brett. Darauf standen Kelche mit Fruchtsäften, und gebratene Fische dampften auf Tellern.
Zwischen Kelchen, Krügen und Tellern lagen Getreidefladen.
Der weiße Jüngling, der sich zum König der Huutsi und der mit ihnen ziehenden Wawaa aufgeschwungen hatte, gestikulierte wild und redete mit lauter Stimme. Er stimmte seine Hauptleute auf die Eroberung der Wolkenstadt ein. Sein weißes Gesicht glühte rötlich, in seinen Zügen standen Zuversicht, Kampfeslust und wilde Entschlossenheit geschrieben.
Rechts neben ihm saß der, den man im Lager hinter vorgehaltener Hand den Göttlichen nannte: Grao’sil’aana, der Gefährte und Berater des Königs. Ihn fürchtete Elloa fast noch mehr als den weißen Jüngling, obwohl Daa’tan ein Magier zu sein schien, einer, der über Pflanzen gebieten konnte.
Zu seiner Linken hockte ein schwarzer Hüne mit einem Löwenkopf auf dem Schädel: der unbezwingbare Mombassa.
Im Gürtel über seinem Hüfttuch trug er sieben Messer, ein Schwert und zwei Faustfeuerwaffen. Es hieß, Mombassa sei dem Göttlichen hörig, und es hieß, allein deswegen habe er König Daa’tan den Treueschwur geleistet. Als Lohn für seine Loyalität hatte der weiße Jüngling ihn zum Generalfeldmarschall ernannt und ihn damit über alle seine Obersten gestellt.
In Elloas
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