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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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und grauen Leggins durch das Grün der Mall lief, im Gedächtnis zu behalten, als von der Wirklichkeit enttäuscht zu werden.
    Aber in der darauf folgenden Woche holte sie ihn wieder ein, obwohl er durchaus in Form war und sein altes College-Training wieder etwas aufpoliert hatte. In der dritten Woche blickte er ständig über die Schulter, immer in der Hoffnung, sie würde auftauchen. Matt machte sich so lange über ihn lustig, bis Neil stehen blieb und alles um sich vergaß, als er Deirdre das erste Mal wirklich zu Gesicht bekam. Es war das Versprechen einer wunderbaren Zukunft, das ihn an diesem Tag anblickte, und nach all den Jahren war er sich immer noch nicht sicher, ob er oder sie dieses Versprechen zuerst gebrochen hatte.
    Neil zuckte mit den Achseln. Die Kälte des Bostoner Morgens vertrieb die Erinnerung an die sonnendurchwärmten Tage in Washington. Er kehrte in sein Schlafzimmer zurück, schnappte sich Boxershorts und eine frische Jeans und ging in das Badezimmer, um zu duschen. Im Vorbeigehen sah er aus den Augenwinkeln sein Spiegelbild und blieb einen Moment stehen. Er war für einen Mann von Anfang vierzig noch gut in Form; das war es nicht, was ihn erschreckte. Was ihn verstörte, war, dass der Kerl dort im Spiegel, der dunkelhaarige Mann mit den angegrauten Schläfen, der dringend einen Haarschnitt brauchte und dessen leicht vornübergebeugte Schultern verrieten, dass er den überwiegenden Teil seines Lebens sitzend verbrachte, ihm so bekannt vorkam. Es war sein Vater, der ihm da entgegenschaute, sein verachteter und verabscheuter Vater, der seine Träume Stück für Stück verkauft hatte und alle Welt dafür verantwortlich machte, nur nicht sich selbst.
    Er musste sein Leben ändern.
     
    * * *
     
    »Warum Boston?« Matt hatte ihn das gefragt, als er zum ersten Mal von seiner Absicht sprach, nach seiner Scheidung nach Massachusetts zu ziehen. »Natürlich verstehe ich, dass du von Washington wegwillst, aber was hat eine Südstaatenpflanze wie du in Neuengland zu suchen?«
    Er hatte eine witzige und inhaltslose Antwort gegeben und über den Unterschied zwischen Boston und Cambridge geflachst. Für die Wahrheit war in der gespannten Neutralität, zu der seine Freundschaft mit Matt zuletzt geworden war, nicht immer Platz.
    Natürlich spielte das Angebot aus Harvard die entscheidende Rolle. Es kam zu einem Zeitpunkt, als er vom beliebten Journalisten und erfolgreichen Autor Neil LaHaye zum berüchtigten Journalisten und gefürchteten Autor Neil LaHaye mutiert war, was sich auch auf seinem Bankkonto bemerkbar machte. Als Gastdozent an eine der besten amerikanischen Universitäten eingeladen zu werden, war ein unerwarteter Lichtblick. An die provozierenden Fragen im Anschluss an jede seiner Lesungen und Signierstunden war er gewöhnt. Nach dem 11. September jedoch hatte sich etwas geändert: Zum ersten Mal waren Morddrohungen aufgetaucht. Statt mit seinem neuen Buch die übliche Talkshow-Runde machen zu können, wurde er aus den meisten Sendungen schon im Vorfeld wieder ausgeladen. Bei einer Signierstunde hatte eine Frau rote Farbe über ihm ausgeleert. Das alles wäre noch keine Katastrophe, wenn er wenigstens wie früher mit seinen Artikeln und Büchern die Menschen erreicht hätte. Sie in ihrem Ärger auch zum Nachdenken zu bringen, wenn er sie schon nicht auf seine Seite ziehen konnte. Doch anders als früher hielten sich die feindseligen Reaktionen nicht mit den positiven die Waage. Sein Buch über die inhaftierten Taliban in Guantánamo war noch nicht einmal ein Erfolg bei den Kritikern, sondern von den wenigen Medien, die es besprachen, als ein Versuch, »unsere nationale Tragödie auszubeuten«, verrissen worden. Gleichzeitig zerbrach seine Ehe. Von einer Elite-Universität umworben zu werden, war, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich sein wollte, Balsam für seine Seele gewesen.
    »Dir ist hoffentlich klar, dass sie dich als ihren Alibi-Roten betrachten«, hatte Matt gestichelt.
    »Sicher. Und mir ist ebenso klar, warum sie dich nicht gefragt haben - du läufst schon seit Jahren in rotweißblauem Einerlei herum.«
    Aber die Möglichkeit, sich durch Seminare für übereifrige oder gelangweilte Studenten eine weitere Einkommensquelle zu verschaffen, gab es auch anderswo, und Cambridge war sehr teuer. Nein, die Entscheidung für Harvard hatte weniger mit Logik als mit einem Gefühlswirrwarr zu tun, das er selbst kaum überblicken konnte.
    Die Schönheit von Boston, dem kühlen, eleganten Boston,

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