Kains Erben
E
s war still im Brunnenhof. Derart erhabene Stille gab es hier nur an hohen Feiertagen, und genau diese Stille brauchte Amicia heute. Sie hatte den Tag mit Umsicht gewählt.
Palmsonntag. Tag des Triumphes und zugleich ein Tag voll bitterem Ernst. Am Morgen waren sie mit langen Eibenzweigen zur Kapelle St. Nicholas in Castro gezogen, allen voran die Priester in Prunkgewändern, die Messdiener und die Jungen, die den Palmesel führten. Sie hatten Hymnen gesungen, die in den Morgen hallten, bis die Nebel sich klärten und verhaltenem Sonnenlicht Raum gaben. Heil dir, Festtag! Jesus, der Herr, zog in seiner Stadt Jerusalem ein. Sobald aber die Messe vorüber war, senkte sich Schweigen auf die Gemeinde, denn mit dem Palmsonntag begann die Leidenszeit des Herrn. Auf lärmende Freude folgte finsterer Schmerz. Jedes Spiel war verboten, doch Amicia und ihre Freunde trieben kein Spiel. Was sie taten, war des Palmsonntags würdig.
Amicia würde an diesem Tag ihre Verlobung feiern.
So umsichtig wie den Tag hatte sie den Ort gewählt: Der Brunnenhof lag innerhalb des Donjon, des Wohnturms der Burg, von verstärkten Mauern umgeben und geschützt hinter einer bewachten Vorhalle. Der Burgherr hatte ihn einst dort angelegt, damit die Bewohner an Wasser kamen, falls die Burg belagert wurde. Für gewöhnlich aber schöpften die Mägde ihr Wasser am Hauptbrunnen bei den Stallungen, und an hohen Feiertagen wie diesem ging überhaupt niemand schöpfen. So hatten Amicia und ihre Freunde den Brunnenhof für sich.
Niemand würde sie erwischen. Hinter der Mauer zur Rechten lag das private Gemach der Burgherrin, doch diese benutzte es nur, um allein zu sein oder – gelegentlich – um mit Amicia am Fenster zu sitzen und ihr den Reichtum der Insel zu zeigen. Heute war Isabel nicht allein und hatte auch keine Zeit für Amicia. Nach der Messe war Adam gekommen, und Isabel war mit ihm fortgeritten, einerlei ob es sich am Feiertag schickte oder nicht. Amicia und ihre Freunde hatten unbemerkt durch ihr Zimmer in den Brunnenhof entschlüpfen können.
Jetzt standen sie hier, in zwei Paare geteilt, rechts Amicia und Abel und links Aveline und Vyves. Wann immer sie an ihre Freunde dachte, erfüllte es Amicia mit Stolz: Waren sie nicht die besten Gefährten, die ein Mädchen von acht Jahren, das nichts Besonderes, sondern nur ein Findling war, sich wünschen konnte? Ihr Bruder Abel. Ihre Freundin Aveline. Ihr Liebster Vyves.
Gemeinsam waren sie etwas Besonderes. Sie waren die Kinder von Carisbrooke. Die letzten vier.
Noch im Herbst waren sie zu fünft gewesen. Dann war Thomas, Avelines Bruder, über Nacht gestorben. Isabel, seine Mutter, war nicht auf der Burg gewesen, doch die ärmste Aveline hatte alles miterlebt.
Mitleid überfiel Amicia. Sie könnte es nie ertragen, ihren Bruder zu verlieren. Sie und Abel waren Zwillinge. Als Säuglinge in einem Korb beim Torhaus gefunden, von der Burgherrin Isabel aufgezogen; sie waren ohne Wissen um ihre Herkunft und doch nicht wurzellos, weil sie einander hatten. Amicia brauchte keinen Spiegel, wenn sie wissen wollte, wie sie aussah, denn sie sah aus wie Abel: Haar wie das Gefieder eines Amselweibchens, schräge, schmale Augen, ein grünes Blitzen zwischen schweren Lidern, breite Wangenknochen und ein forsches Kinn.
Jäh schmiegte Amicia sich in Abels Arm, obwohl der Bruder eine Handbreit kleiner war als sie. Zum Ausgleich war er der Klügste von allen. Er würde Priester werden, wenn er alt genug war, und schon heute sollte er die Rolle des Priesters übernehmen. Zuvor schloss er als Amicias nächster Verwandter für sie die Verlobung. Hätte sie einen Vater gehabt, so hätte der den Brautvertrag unterzeichnen müssen, doch wo der Vater fehlte, war ein Bruder der beste Ersatz.
Vyves hingegen, Amicias Bräutigam, hatte einen Vater. Er war der Sohn von Herrn Elijah, Isabels Finanzier, der unter ihrem Schutz innerhalb der Burgmauern lebte. Ihn aber hatten sie nicht bitten können, den Vertrag für seinen Sohn zu unterzeichnen.
»Es geht nicht«, hatte Abel zu Vyves gesagt. »Weißt du nicht selbst, dass es auf diese Weise nie möglich wäre?«
Auch die Ketubah, die Vyves hatte abfassen wollen, um nach jüdischem Brauch die Rechte der Braut festzulegen, hatte Abel ihm verwehrt. »Wenn du Amicia heiraten willst, musst du dich von alldem trennen, Vyves.«
»Aber das kann ich nicht!«, hatte Vyves ausgerufen. »Ich kann doch kein anderer werden, als ich bin.«
Bekümmert hatte Abel den Kopf
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