Götterfall
zumindest.
Sie warf einen Teebeutel in ihre Tasse, und während sich der Wasserkocher langsam erhitzte, fahndete Wencke nach den beiden Briefen. Bäuchlings schob sie sich über die Fliesen. Der Kochlöffel war nicht schmal genug, um zwischen Boden und Kühlschrank zu gelangen, also versuchte sie es mit einem chinesischen Essstäbchen. Der erste Umschlag war Werbung für eine schnellere Internetverbindung, weg damit!
Der zweite Brief lag noch weiter hinten, das Stäbchen musste alles geben, endlich erreichte sie die letzte Ecke des Umschlags und zog ihn hervor. Immerhin war er handschriftlich mit kleinen Druckbuchstaben adressiert, und auch wenn sich der Absendernicht zu erkennen gab: Der Poststempel auf der Rosenbriefmarke verriet, dass die Sendung irgendwo in Norddeutschland aufgegeben worden war.
Wencke rappelte sich hoch und riss mit dem Daumennagel durch das Papier. Im Kuvert befanden sich einige Blätter, die meisten waren Kopien einer handschriftlichen Notiz, ans Deckblatt geheftet prangte ein Foto: Drei junge Frauen standen vor einem winterlich glatten, kleinen See und grinsten in die Kamera. Im Hintergrund erkannte man durch spillrige Bäume den sechseckigen Turm eines Schlosses. Obwohl die Farben verblasst waren, leuchteten die roten Dächer der Nebenflügel. Die drei Frauen hatten Spaß. Links stand Wencke – mein Gott, da musste sie Anfang 20 gewesen sein –, in der Mitte die etwas füllige Blondine Silvie und ganz außen Doro, drahtig, mit ihren dunklen Augen und dem Kopf voller Locken. Irgendjemand hatte einen Kugelschreiberkreis um ihre Gestalt gemacht.
Doro! Wie lang hatte sie den Gedanken an Doro verdrängt?
Wencke musste sich setzen. Die Erinnerung zwang sie dazu. Sie wendete das Foto, das aufgestempelte Datum war verblichen und nur noch schwer zu entziffern, doch eigentlich wusste Wencke genau, wann dieses Bild aufgenommen worden war. Es gab Tage, die sich einem ins Gedächtnis frästen. Und so ein Tag war der 18. Januar 1994. Der Tag, an dem der kleine Jan Hüffart verschwand.
Sie löste die Büroklammer, sortierte zögerlich die kopierten Blätter und begann schließlich zu lesen.
Urð
[Polizeischule Bad Iburg,
Zimmer 247, 18./19. Januar 1994, gegen Mitternacht]
Mache jetzt Notizen, besser so. Passiert zuviel, das vergesse ich sonst. Oder glaube irgendwann, es wäre nur Einbildung gewesen.
Bin in der Akademie. Wencke und Silvie schlafen schon. Habe versucht, sie zu wecken, erfolglos. Dabei brauche ich dringend jemanden zum Quatschen.
Haben eben alle stundenlang diesen Jungen gesucht. 12 Jahre, dunkelblauer Anorak, Pumaschuhe und so weiter. Sein Name ist Jan Hüffart, ja, richtig, Hüffart, er ist der Sohn vom Parteibonzen, der hier in Bad Iburg seinen Privatbungalow hat. Ich mag ihn nicht, merkt man, oder? Ihn und seine Partei, alle zu nah am Geld gebaut. Aber klar, um seinen Sohn tut es mir leid, der kann nichts für die Politik seines Vaters.
Der Einsatzleiter hat die Polizeischüler zur Suche nach dem Jungen eingeteilt. Die meisten von uns sind durch die Straßen dieses Kaffs gelatscht. Wencke, Silvie und mich hat man mit dem Durchforsten des Waldes hinterm Schloß beauftragt.
Das Gerücht, daß es sich um eine Entführung handelt, hat schnell die Runde gemacht. Klar, der Sohnemann von Hüffart, dem Oberkonservativen des Landes, Vorstand der Treuhand, Millionenjongleur, der verknackst sich nicht einfach den Fuß, dem muß was richtig Schlimmes passiert sein.
Ich hab Magenschmerzen. Mir fallen Sachen ein, die ich gesehen habe. Die einen Verdacht in mir wecken. Nicht so konkret, nurAndeutungen. Ein unbekannter Schlüssel, der nicht in die Haustür paßt, und als ich nachfrage, gibt es keine Antwort. Ein paar heimliche Telefonate, die beendet werden, sobald ich um die Ecke komme.
Was ist, wenn tatsächlich F. dahintersteckt?
Ich liege wach, traue mich aber nicht, die Mädels zu wecken. Was soll ich ihnen sagen? Daß ich meinen eigenen Freund verdächtige?
Würde ich an den da oben glauben, wäre ein Gebet fällig: Lieber Gott, bitte laß es für alles eine harmlose Erklärung geben. Bitte mach, daß der kleine Jan wieder auftaucht. Einfach so. Kerngesund! Bitte!
D.
Verðandi
[11. Juni, 17.45 Uhr, Bischof-Benno-Straße,
Bad Iburg, Deutschland]
Das Telefon läutete nur ein einziges Mal, dann hörte Silvie, wie Zöllner im Vorzimmer das Gespräch annahm. »Frau Hüffart ist ohne vorherigen Termin nicht zu sprechen.« Ihr Sekretär hatte eine Stimme, mit der man Glas hätte
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