Götterfall
Angst hatte, nicht richtig durchgegriffen zu haben. Zu Recht!
Sie ließ es lange klingeln, ging erst einmal zur Stereoanlage und stellte die Musik, die bislang als Hintergrundbeschallung gedient hatte – sie mochte es, neben der Arbeit Wagner zu hören, das hatte so etwas Erhabenes –, deutlich lauter. Zwar glaubte sie nicht, dass Zöllner neugierig genug war, um eventuell an der Tür zu lauschen, nein, so ein Mitarbeiter war er nicht, doch sie wollte auf Nummer sicher gehen.
Trompeten stimmten die Götterdämmerung ein, tatatata! Dann fühlte Silvie sich dazu in der Lage, das Gespräch entgegenzunehmen. »Ja ja, die Wencke also!«
Die hielt sich nicht mit unnötigen Begrüßungsformalitäten auf, sondern kam gleich zur Sache. »Ich habe Post bekommen.«
»Mein Mitarbeiter teilte bereits mit, Doro habe geschrieben.«
»So ungefähr.« Wenckes Timbre hatte sich nicht verändert, war noch immer leicht heiser und mit einem Hauch Trotzigkeit zwischen den Silben ausgestattet. Sogleich tauchte vor Silvies innerem Auge die Erinnerung an eine kleine, bodenständige Person mit breitem Grinsen und einer etwas nach oben stehenden Nasenspitze auf. Ob sie das Haar noch immer kurz und rot trug? Bestimmt, ja, Wencke Tydmers war der Typ Frau, der es vorzog, auch jenseits der vierzig auf jugendlichen Charme zu setzen.
»Du weißt so gut wie ich, dass das nicht möglich ist. Dorothee Mahlmann ist tot, und zwar schon seit mehr als zehn Jahren. Wie also sollte sie dir heute einen Brief schreiben?«
»Sie hat mir nicht direkt geschrieben. Jemand hat mir ein altes Foto geschickt, das ich noch nie gesehen habe. Doro, du und ich am Charlottensee in Bad Iburg, aufgenommen an dem Tag, als Jan Hüffart verschwunden ist.«
Silvie holte Luft, zu dumm, diese kleine Pause verriet, wie sehr es sie verunsicherte, wenn das Gespräch auf diese schreckliche Geschichte gelenkt wurde. Sie riss sich zusammen: »Warum regt dich das so auf? Vielleicht stammt die Fotografie aus Doros Nachlass und ihre Erben, vermutlich die Eltern, sind gerade dabei, ihren ganzen Kram zu sortieren. Dann haben sie das Bild gefunden, deinen Namen gegoogelt, die Fotos in den Umschlag gesteckt und losgeschickt, fertig!«
Das war doch tatsächlich eine Möglichkeit, die naheliegend und plausibel klang, fand Silvie. Trotzdem, was ihre ehemalige Freundin gerade erzählte, war seltsam beunruhigend. Etwas in ihr flüsterte, dass sich niemals einfache Erklärungen finden ließen, wenn es um Doro ging. Diese Frau hatte schließlich schon immer für Ärger gesorgt, bis zu ihrem bitteren Ende.
»Außer dem Foto befand sich noch etwas anderes in dem Umschlag. Wusstest du, dass Doro damals Notizen gemacht hat?«
»Nein, woher sollte ich das wissen?«
»Jemand hat mir die handschriftlichen Aufzeichnungen kopiert. Darin deutet Doro an, dass sie irgendwelche Ahnungen hatte, das Verbrechen betreffend. Sie stammen vom selben Tag …«
Silvie hielt es für angebracht, nichts zu erwidern. Gerade jetzt sang der Bayreuther Chor dramatische Verse vom Weltuntergang, der passende Soundtrack zu Silvies Schweigen.
»Verdammt noch mal, Silvie, was sagst du dazu?«
»Es interessiert mich nicht, Wencke. Was damals passiert ist, war schrecklich genug. Ich bin froh, heute nichts mehr damit zu tun zu haben.«
»Ich finde, du solltest dir das selbst einmal ansehen«, beharrte Wencke. »Können wir uns treffen?«
»Bei aller Liebe, Wencke, ich bin eine viel beschäftigte Frau. Karls Terminkalender ist randvoll und er besteht darauf, dass ich ihn immer begleite.«
»Es geht um Doro! Ich vermute, jemand will mir etwas Wichtiges mitteilen! Macht dich das nicht auch wenigstens ein kleines bisschen … neugierig?«
Silvie zuckte mit den Schultern, auch wenn Wencke die Geste durchs Telefon nicht sehen konnte. Nebenbei sortierte sie die weißen, langstieligen Rosen, die in einer Kristallvase auf dem abgedeckten Steinway drapiert waren. Sie würde sich nicht aus dem Gleichgewicht werfen lassen von einem Brief, der alles oder nichts bedeuten konnte. »Eventuell wollten Doros Eltern diese Sache einfach noch mal in Erinnerung bringen. Immerhin …« Silvie schwieg.
»Immerhin was?«
»Vielleicht sind sie enttäuscht. Ich könnte es ihnen nicht verdenken. Wir waren beste Freundinnen.«
»Blödsinn, das waren wir nicht. Wir haben bloß zufällig ein gemeinsames Zimmer zugewiesen bekommen«, protestierte Wencke.
Natürlich hatte sie recht, zu richtigen Freundinnen waren sie nie geworden, dazu
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