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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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und der Weltgeschichte eine neue Wendung gab. Waterloo hieß der Ort, zu dem der Offiziersbursche von Captain Finley den Jungen brachte. Hier lag das Hauptquartier der englischen Armee.
    Noch immer halb benommen, mit Schmerzen in Kopf und Gliedern und den Bildern des Schreckens vor Augen trottete Alexander zu der ihm angewiesenen Unterkunft in einem geräumigen Stall und rollte sich auf einem Strohsack zusammen.
     
    In den ersten Tagen ließen sie ihn in Ruhe. Ein Pferdeknecht brachte ihm dann und wann etwas zu essen und später ein paar einigermaßen saubere Kleider. Von dem hektischen Geschehen rund um ihn herum bekam Alexander wenig mit. Sein wunder Körper erholte sich allmählich von den vergangenen Strapazen, die Brandwunden verheilten, die Kopfschmerzen verloren an Heftigkeit. Manchmal wurde ihm noch schwindelig, aber nach vier Tagen war er in der Lage, zum Brunnen zu gehen und sich mit dem kalten Wasser zu waschen. Es hatte ihn niemand dazu angehalten, aber auf eine unklare Weise erinnerte er sich daran, dass man sich sauber zu halten hatte. Überhaupt schien sein Geist beschlossen zu haben, so gründlich wie möglich alles zu vergessen, was die Vergangenheit betraf. Nur die Gegenwart zählte, und in der musste er sich irgendwie zurechtfinden. Er befand sich an einem ihm unbekannten Ort, doch das Gewimmel von Uniformen war ihm vertraut. Auch die Pferde machten ihm keine Angst, und willig übernahm er die Aufgabe, sie zu füttern, zu striegeln und das Lederzeug zu putzen. Drei weitere Jungen, etwas älter als er, hatten ihre Bleibe in dem Pferdestall und kümmerten sich ebenfalls um die Tiere. Er sprach kaum mit ihnen, weil er sie schlecht verstand. Englisch war ihm zwar geläufig, nicht aber der breite Dialekt und die derben Ausdrücke, die sie verwendeten. Er erhielt bald den Spitznamen Donnow – »Don’t know« -, weil das seine ständige Antwort auf ihre Fragen war.
    Er passte zu ihm, denn Alexander wusste vieles wirklich nicht. Aber als der Offizier, in dessen Dienst er zufällig geraten war, einen Monat später seinen Leuten erklärte, sie würden die Heimreise nach Colchester antreten, musste Alexander sich wenigstens einige Antworten auf die wesentlichen Fragen überlegen.
    »Junge, ich habe dich zwar aus dem Durcheinander bei Plancenoit geklaubt, weil ich dich da nicht verrecken lassen wollte. Aber wie bist du eigentlich dahingekommen?«, wollte Captain Finley von ihm wissen und hielt ihn damit zurück, den anderen Stallburschen zu folgen.
    »Ich fürchte, ich hab es vergessen, Sir.«
    »Du fürchtest. Aha. Wer sind deine Eltern?«
    »Sie sind tot, Sir.«
    Das war die einzige Möglichkeit, das entsetzliche Gefühl zu ertragen, das sich jedes Mal in ihm breitmachte, wenn er wagte, sich dieser Frage zu stellen.
    »Gott, ja, das sind heutzutage viele«, seufzte der Captain und nickte dann. »Mein Pferdeknecht sagt, du bist ganz anstellig. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Hab schließlich zwei meiner Jungen hier verloren.«
    Alexander nickte, und so betrat er im Herbst desselben Jahres englischen Boden. Die Männer der 30. Battery Royal Artillery – gemeinhin »Rogers Company« genannt – stammten überwiegend aus Colchester, und hier bezog auch Captain Finley Quartier.
    In den folgenden zwei Jahren kümmerte sich Alexander in den Baracken der Garnisonsstadt um Finleys Pferde, dafür erhielt er ein Bett über den Ställen, täglich zwei Mahlzeiten, Weihnachten und Ostern neue Kleider und hin und wieder einen Shilling. Die Arbeit verlangte viel Zeit und Aufmerksamkeit, und er wuchs zu einem zähen, mageren Jungen heran. Die Brandwunde an seinem Arm war zu einer roten Narbe verwachsen und störte ihn nicht mehr, auch seine Kopfverletzung war vollständig verheilt, zurückgeblieben aber war eine Strähne weißen Haars an seiner linken Schläfe, die sich durch die hellbraunen Locken zog. Zwar blieb er weiterhin wortkarg, aber mit Jimmy und Wally, den beiden anderen Stalljungen, mit denen er die Unterkunft teilte, freundete er sich allmählich an. Sie saßen, wenn es nichts zu tun gab, bei einem Knobelspiel zusammen, das ihm nicht unvertraut erschien. Die Kartenspiele jedoch kannte er nicht, erwarb jedoch eine gewisse Geschicklichkeit darin. Lieber aber streunte er durch die Gegend, stibitzte von den Feldern schon mal ein paar Erdbeeren oder im Herbst den einen oder anderen Apfel. Mit dieser Beute saß er gerne am Ufer des Colne und sah den sich behäbig drehenden Wasserrädern der Mühlen zu. Hätte

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