Göttin der Rosen
Angst. Und nicht etwa vor dem phantastischen Wesen, das ihr gegenübersaß. Mikki hatte Angst vor sich selbst.
Schnell wandte sie den Blick ab und fing an, das Essen auf ihrem Teller zu sortieren. Bald darauf hörte sie an dem unverkennbaren Klappern des Bestecks, dass er sich endlich bediente. Mikki füllte ihren Kelch mit dem kalten Weißwein und stellte zu ihrer Freude fest, dass es derselbe köstliche Wein war, den sie an den Quellen getrunken hatte. Sie sah zu dem Wächter auf.
»Möchtest du Wein?«
Er nickte, und sie goss ihm ein. Dann hob sie ihren eigenen Kelch und lächelte.
»Auf die Rosen!«
Der Wächter zögerte. Er machte eine kleine Handbewegung und murmelte ein einziges Wort, bevor auch er seinen Kelch hob. In seiner massigen Hand verschwand der filigrane Kristallkelch fast vollständig, und er hielt ihn unbeholfen, als fürchtete er, ihn zu zerbrechen.
»Auf unsere neue Empousa«, sagte er.
Als sie den Kelch an die Lippen führte, sah sie die perfekte weiße Rosenknospe, die auf dem Wein tanzte. Vorhin war sie noch nicht da gewesen; er hatte sie erscheinen lassen. Mikki schloss die Augen, und während sie trank, atmete sie den süßen Duft, der das frische Aroma des Weins perfekt ergänzte, tief ein.
Noch wusste sie nicht, dass sie diesen Moment ihr Leben lang als den in Erinnerung behalten würde, in dem sie sich in den Wächter zu verlieben begann.
20
Sie hatte sich ein entspanntes Essen gewünscht, aber leider gab es einige peinliche Momente. Der Wächter war schweigsam, wirkte verlegen und fühlte sich ganz offensichtlich unbehaglich. Was einleuchtend war. Er aß sonst immer allein. Im ganzen Reich wurde er als Tier angesehen, als Außenseiter. Wie sollte er da etwas von höflicher Konversation verstehen?
Sie achtete darauf, ihn nicht anzustarren, denn jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, hörte er sofort auf zu essen. Um es ihm leichter zu machen, ließ sie Messer und Gabel einfach liegen, steckte sich Fleisch und Käse mit den Fingern in den Mund und kaute absichtlich geräuschvoller als sonst. Aber er saß trotzdem steif und schweigend da, aß wenig und trank nur, wenn sie gerade nicht auf ihn achtete.
Zum ungefähr hundertsten Mal sah Mikki ihn über den Tisch hinweg an und schaute hastig wieder weg. Schade, dass sie keinen Fernseher hatten, dann hätten sie zu zweit schweigend auf die Mattscheibe starren können, oder wenigstens ein paar andere Menschen neben sich, die sie belauschen konnten. Er brauchte etwas, was ihn davon ablenkte, dass er mit ihr am Tisch saß und aß. Auf einmal hatte sie eine Idee.
»Der Plan von den Gärten«, sagte sie. »Den könntest du für mich aufzeichnen, während wir hier sitzen und essen.« Ihre Gedanken rasten. »Bestimmt können die kleinen Dienerinnen, die das Essen und so bringen, Papier und einen Stift für uns auftreiben.« Allerdings würde sie sie an der Tür abfangen und nicht in ihr Zimmer lassen. Keiner würde erfahren, dass der Wächter hier war.
»Das hab ich schon gemacht, während ich auf Euren Besuch gewartet habe.« Er streckte seine riesige Hand aus und sagte ein Wort, das klang wie ein mit Vokalen gemischtes Knurren, und plötzlich manifestierte sich in seiner Pranke ein zusammengerolltes Pergament, das er Mikki überreichte. Sie nahm es behutsam entgegen, beinahe so, als hätte sie Angst, dass es verschwinden würde, wenn sie es berührte.
»Weißt du, es ist erstaunlich, wie du Dinge einfach so erscheinen lässt.« Sie räusperte sich und fügte – nur halb im Spaß – hinzu: »Könntest du mir das beibringen?« Eigentlich kam es ihr unmöglich vor, aber wer wusste das schon so genau in dieser Welt?
»Die Fähigkeit, unbeseelte Gegenstände herbeizurufen, besitzen nur die Kinder eines Titanen.«
»Schade. Es wäre schon praktisch, eine Hacke oder eine Gartenschere herbeizaubern zu können, statt sie schleppen zu müssen.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinen Lippen. »Aber dafür habe ich nicht die Fähigkeit, die Elemente zu mir zu rufen oder Hekates heiligen Kreis zu beschwören.«
Auch sie lächelte. »Es hat eindeutig Vorteile, hier die Empousa zu sein.«
»Stimmt.« Wieder hob er sein Weinglas und prostete ihr zu, und diesmal schien er mit dem Kristallkelch schon ein wenig entspannter umzugehen.
Mikki schob das Geschirr so an den Rand des Tischs, dass Platz für das Pergament war. Dann entrollte sie den Plan des Wächters und stellte vier der kleineren Teller auf die Ecken, damit er offen liegen
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