Göttin der Rosen
einem Mal wurde ihr bewusst, dass er inzwischen am Tisch stand und sich von ihr betrachten ließ. Mikki fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden.
»Wie nennt man das eigentlich?«, platzte sie heraus, um von ihrem peinlichen Starren abzulenken.
»Was meint Ihr, Empousa?« Er sah sie verwirrt an.
»Dieses Lederteil, das du trägst. Ich kenne mich mit den Kleidungsstücken in dieser Welt nicht aus.« Sie hob eine Ecke ihres Gewands. »Erst heute Morgen musste Gii mir erklären, dass das hier ein Chiton ist. Deshalb war ich neugierig, wie man das nennt, was du trägst.« Sie fand, dass das nicht allzu dämlich klang.
Er sah an sich hinab und dann wieder zu ihr. »Das ist ein Kürass.«
»Kürass«, wiederholte sie das fremde Wort. »Und ist das darunter ein Chiton?«
»Nein, das ist eine kurze Tunika. Ein Krieger würde in einer Schlacht keinen Chiton tragen.«
Ermutigt von dem belustigten Funkeln in seinen Augen, zeigte sie auf seine nackten Beine. »Ich glaube, in einer Schlacht braucht man mehr Schutz.«
Sofort wurde sein Gesicht wieder hart. »Das würde ich, wenn ich ein Mann wäre. Griechische Männer tragen im Krieg lederne Beinschienen.« Er hob einen massigen Huf und ließ ihn direkt vor ihr so laut auf den Boden krachen, dass sie zusammenfuhr. »Ich brauche keinen solchen Schutz.«
Sie spürte einen Schauer von Faszination und Angst auf der Haut, blickte in seine dunklen Augen und war ungemein stolz, dass ihre Stimme ganz normal klang. »Wow. So ein natürlicher Schutz ist in deinem Beruf bestimmt praktisch.«
»Hekates Wächter zu sein, das ist kein Beruf – das ist mein Leben.«
Mikki zwang sich zu einem entspannten Lachen und nahm sich ein Stück kaltes Fleisch. »Du hast ja keine Ahnung, wie viele Männer in meiner alten Welt das über ihren Job gesagt haben.«
»Ich bin aber kein Mann«, grollte er.
Dieses Mal konnte Mikki sich ein Seufzen nicht verkneifen. Sie legte ihre Gabel ab und sah ihm direkt in die Augen. »Das ist mir durchaus bewusst. Genau wie dir – und dem Rest dieses Reichs – sicherlich bewusst ist, dass ich anders bin als meine Vorgängerinnen. Aber reagiere ich jedes Mal gereizt, wenn mich jemand daran erinnert? Nein. Muss ich ständig betonen, dass ich wahrscheinlich zwanzig Jahre älter bin als die anderen Empousas und dass ich so gut wie nichts von dieser Welt verstehe? Nein. Und das hat zwei Gründe: Erstens ist das einfach nur nervig, und zweitens ändert Jammern überhaupt gar nichts. Ich meine, ich könnte auch ständig jammern, dass ich gern größer oder dünner wäre, aber das würde nichts daran ändern, dass ich eins siebzig groß bin und« – sie zögerte – »und zehn Pfund mehr wiege, als mir recht wäre.« Mit einer frustrierten Handbewegung deutete sie auf den Stuhl. »Würdest du dich jetzt bitte setzen? Ich bin hungrig, und wenn ich hungrig bin, kriege ich schlechte Laune. Also lass uns etwas essen.«
Zu ihrer Überraschung schnauzte er sie nicht an, lief auch nicht weg, sondern setzte sich.
Sie nahm ihre Gabel wieder in die Hand und bediente sich an der köstlichen Auswahl von Käse und Fleisch. Heute Abend gab es zusätzlich schwarze, schmackhafte Oliven, gebratene Paprikaschoten und frische Feigen. Sie blickte auf, als ihr bewusst wurde, dass er sich nichts nahm, und sah ihn verwundert an.
»Ich bin es nicht gewohnt, in Gesellschaft zu essen«, erklärte er bedächtig.
Sie musste ihn nicht fragen, warum, denn von Gii wusste sie bereits die Antwort. Der Rest des Reichs sah in ihm ein Biest, ein aufrecht gehendes, sprechendes Tier. Sogar die Göttin hatte sie streng daran erinnert, dass der Wächter kein Mann war und es auch nie sein würde.
Aber Mikki sah das anders. Nein, er war kein Mann, aber er war auch kein Tier.
»Dort, wo ich herkomme, gilt es als äußerst engherzig, jemanden vom Essen auszuschließen.«
»Und du bist nicht engherzig, Mikado.«
Es war keine Frage, aber sie antwortete trotzdem. »Nein. Manchmal bin ich stur und zynisch und sogar egoistisch, aber ich kann dir versichern, dass ich nie engherzig war.«
Während sie sprach, veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Es war, als hätte sich eine Schutzschicht gelöst. Auf einmal wirkte er unerwartet verletzlich – sehr verletzlich. Sie erinnerte sich an das herzzerreißende einsame Brüllen, das aus der toten Statue bis in ihre Träume gedrungen war. Alles in ihr schrie danach, seine Hand zu nehmen und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, aber plötzlich hatte sie
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