Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
er.
Der Befehl traf den Golem wie ein Pfeil. Rasch stieg sie aus der Kiste, beugte sich über Rotfeld und hob ihn hoch, als wöge er nicht mehr als ein kleiner Junge. Mit ihrem Meister auf den Armen ging sie zwischen den Kisten hindurch, die schmale Treppe hinauf und aus dem Frachtraum hinaus.
Im Zwischendeck brach Unruhe aus. Sie breitete sich aus, weckte die Schlafenden, die sich murrend in ihren Kojen umdrehten. Eine Schar sammelte sich neben einem Bett nahe der Luke, wo ein Mann zusammengebrochen war, sein Gesicht im Lampenlicht aschfahl. Ein Ruf wurde von Reihe zu Reihe weitergegeben: War ein Arzt hier?
Bald tauchte einer auf, in Schlafanzug und Mantel und mit einer ledernen Tasche in der Hand. Die Leute machten ihm Platz, als er sich der Koje näherte. Neben dem kranken Mann stand eine große Frau in einem braunen Kleid, die mit weit aufgerissenen Augen zusah, wie der Doktor das Hemd des jungen Mannes aufknöpfte und zur Seite schob. Vorsichtig tastete der Arzt Rotfelds Bauch ab und wurde mit einem kurzen Schrei belohnt.
Die Frau stürzte sich auf den Arzt und riss seine Hand weg. Erschrocken wich er zurück.
»Ist schon in Ordnung«, flüsterte der Mann auf dem Bett. »Er ist Arzt. Er will mir nur helfen.« Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.
Argwöhnisch tastete der Arzt noch einmal Rotfelds Bauch ab, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. »Es ist der Blinddarm«, sagte er. »Wir müssen ihn sofort zum Schiffsarzt bringen.«
Der Doktor fasste Rotfeld am Arm und zog ihn behutsam auf die Beine. Ein paar Männer halfen ihm, und gemeinsam hievten sie Rotfeld, der halb bewusstlos zwischen ihnen hing, durch die Luke. Die Frau folgte ihnen auf den Fersen.
Der Schiffsarzt war ein Mann, der nicht gern mitten in der Nacht geweckt wurde, erst recht nicht, um einen namenlosen Bauern aus dem Zwischendeck zu operieren. Ein Blick auf den Kranken, der sich auf dem Operationstisch wand, und er fragte sich, ob sich die Mühe lohnte. Dem fortgeschrittenen Stadium der Entzündung und dem hohen Fieber nach zu urteilen, war der Blinddarm wahrscheinlich durchgebrochen und hatte die Bauchhöhle mit Giften überflutet. Schon die Operation konnte tödlich verlaufen. Keiner der Ausländer, die ihn gebracht hatten, sprach auch nur ein Wort Englisch; nachdem sie ihn abgeliefert hatten, waren sie an der Luke stehen geblieben und dann wortlos wieder gegangen.
Tja, da war nichts zu machen. Er musste operieren. Er ließ seinen Assistenten holen und legte seine Instrumente bereit. Er suchte gerade nach dem Äther, als plötzlich die Luke aufgerissen wurde. Vor ihm stand eine Frau, groß und dunkelhaarig, die trotz der kalten Atlantikluft nur ein dünnes Kleidchen trug. Panisch eilte sie zu dem Mann auf dem Tisch. Seine Frau vermutlich oder seine Liebste.
»Wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, Englisch zu sprechen«, sagte er, und natürlich starrte sie ihn nur verständnislos an. »Es tut mir leid, aber Sie können nicht hier bleiben. Im Operationssaal sind Frauen nicht zugelassen. Sie müssen gehen.« Er deutete zur Luke.
Das zumindest begriff sie: Sie schüttelte heftig den Kopf und begann, auf Jiddisch zu palavern. »Schauen Sie«, sagte der Arzt und fasste sie am Ellbogen, um sie hinauszubugsieren. Ebenso gut hätte er nach einem Lampenmast greifen können. Die Frau rührte sich nicht, ragte vor ihm auf, stark und plötzlich riesengroß, eine wahre Walküre.
Er ließ ihren Arm los, als hätte er sich verbrannt. »Wie Sie wollen«, murmelte er beunruhigt. Er machte sich am Ätherbehälter zu schaffen und versuchte, die bizarre Gestalt in seinem Rücken zu ignorieren.
Die Luke wurde geöffnet, und ein junger Mann torkelte schlaftrunken herein. »Doktor, ich bin – du meine Güte!«
»Beachten Sie sie nicht«, sagte der Arzt. »Sie weigert sich zu gehen. Wenn sie ohnmächtig wird, umso besser. Schnell jetzt, oder er stirbt, bevor wir ihn aufgeschnitten haben.« Und damit betäubten sie ihren Patienten und machten sich an die Arbeit.
Hätten die Männer von dem heftigen Kampf gewusst, den die Frau in ihrem Rücken mit sich ausfocht, wären sie fluchtartig aus dem Operationssaal und um ihr Leben gerannt. Jedes geringere Geschöpf hätte die beiden erdrosselt, als ihre Messer Rotfelds Haut durchschnitten. Aber der Golem erinnerte sich an den Doktor im Zwischendeck und an die Versicherung ihres Meisters, er wolle ihm helfen; und dieser Doktor hatte ihn hierhergebracht. Trotzdem zuckten ihre
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