Rebellin der Leidenschaft
Prolog
Clayborough, 1874
Im Saal drängten sich die Gäste. Lebhaftes Stimmengewirr, fröhliches Lachen und die heiteren Klänge eines Streichquartetts erfüllten die Gänge.
Zwei Stockwerke über dem Ballsaal lag ein kleiner Junge in einem großen Bett und lauschte auf die Geräusche, die durch das Haus schallten. Seine kleinen Fäuste umklammerten die Zudecke, schlaflos starrte er in die Dunkelheit.
Er mochte die Dunkelheit nicht, aber er war schon sechs, kein Baby mehr. Deshalb wollte er das Licht an seinem Bett nicht anmachen. Stattdessen starrte er auf die Schatten an der Wand, verursacht von den altmodischen Wandleuchtern draußen im Gang, deren Schein durch den Türspalt drang; sein Kindermädchen hatte die Tür fürsorglich ein wenig offen stehen lassen.
Er stellte sich vor, dass diese flackernden Schatten Menschen seien, keine Ungeheuer; Frauen mit funkelnden Juwelen und Männer im nachtschwarzen Frack. In seiner Fantasie war er einer dieser Männer, nicht mehr ein kleiner Junge, sondern ein richtiger Mann, so stark und mächtig wie die Lords im Ballsaal. So stark und mächtig wie der Herzog, sein Vater. Nein - stärker, mächtiger.
Bei dieser Vorstellung musste er lächeln. Ganz kurz fühlte er sich wie ein Erwachsener. Doch dann hörte er sie und sein Lächeln verschwand. Zitternd fuhr er hoch.
Sie standen draußen im Gang vor seiner Tür. Er strengte sich an, sie zu verstehen, auch wenn er es eigentlich gar nicht hören wollte. Seine Mutter, leise, fast flüsternd: »Ich hatte noch nicht mit Ihrer Rückkehr gerechnet. Soll ich Ihnen helfen?«
Darauf sprach sein Vater: »Haben Sie es so eilig, mich ins Bett zu komplimentieren?« Die Stimme des Herzogs von Clayborough war ganz und gar nicht leise.
Der kleine Junge umklammerte seine Decke noch fester. Die Schatten machten ihm keine Angst mehr, denn jetzt war das Ungeheuer draußen auf dem Gang, direkt vor seiner Tür.
»Was ist los, Isobel?«, wollte Francis Braxton-Lowell wissen. »Habe ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet? Offensichtlich freuen Sie sich nicht besonders über mich. Haben Sie Angst, dass ich mich um die Gäste kümmere, die in meinem Haus weilen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte die Mutter ruhig.
Obwohl der Junge eigentlich lieber in seinem Bett geblieben wäre, stand er doch auf, schlich zur Tür und lugte hinaus.
Der Herzog war groß, blond und attraktiv, seine Mutter war noch blonder, berückend schön und elegant. Er war unrasiert, sein feiner Abendanzug zerknittert. Sie wirkte in ihrem langen blauen Satinkleid und mit ihren funkelnden Juwelen einfach vollkommen. Auf dem Gesicht des Herzogs zeigte sich deutlich seine Abneigung. Schroff wandte er sich von ihr ab, stolperte und taumelte schließlich den Gang entlang. Der Umriss seiner Mutter verschwand. Besorgt folgte sie ihrem Mann.
Der Junge starrte den beiden nach.
Vor der Tür seiner Suite blieb der Herzog stehen. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht.«
»Werden Sie nach unten kommen?«
»Haben Sie Angst, dass ich Sie blamiere?«
»Natürlich nicht.«
»Sie sind eine ausgezeichnete Lügnerin. Warum laden Sie mich nicht nach unten ein, Isobel?«
Die Mutter stand mit dem Rücken zu ihm, er konnte also ihr Gesicht nicht sehen, doch ihre Stimme klang nun nicht mehr so ruhig. »Ziehen Sie sich bitte noch um, wenn Sie sich zu uns gesellen wollen.«
»Möglicherweise tue ich das«, knurrte er. Plötzlich fiel sein Blick auf das Diamantencollier an ihrem Hals. »Dieses Talmi kenn ich ja noch gar nicht.«
»Ich habe es noch nicht lange.«
»Verdammt nochmal, das schaut nicht aus wie gläserner Billigtand!«
Isobel erwiderte nichts darauf.
Eisiges Schweigen umgab die beiden. Der kleine Junge war hinter ihnen her geschlichen und duckte sich nun hinter ein Lacktischchen. Angst schnürte sein Herz zusammen. Die Augen des Herzogs weiteten sich, und plötzlich riss er der Mutter den Schmuck vom Hals. Isobel unterdrückte einen Schrei. Der Junge wollte sich schon auf sie stürzen.
»Das ist ja echt!«, schrie der Herzog. »Bei Gott, das sind echte Diamanten! Du falsches Biest! Du hast Geld vor mir versteckt!«
Die Herzogin erstarrte.
Auch der Junge wagte sich nicht mehr zu rühren und blieb heftig atmend hinter ihr stehen.
»Stimmt das etwa nicht?«, schrie Francis. Woher hast du das Geld für dieses Ding? Woher? Zum Teufel mit dir!«
»Aus Pachteinnahmen«, sagte Isobel mit zittriger Stimme. »Wir haben unsere ersten Pachtgebühren von der Dupres-Bergbaugesellschaft
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