Gottes Zorn (German Edition)
schlaftrunken mit dem Gesicht im Schnee liegend. In seinem Kopf hämmerte es. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Blut.
Erst als er wieder auf die Füße gekommen war, realisierte Joel, dass er auf dem Bahndamm stand. Er musste mit dem Kopf gegen die Schienen geschlagen sein. Das Wildschwein konnte er nicht mehr sehen. War es etwa eine Fata Morgana gewesen? Er befühlte die Platzwunde, die er sich oberhalb der Augenbraue auf der Stirn zugezogen hatte. Hob die Flinte vom Boden auf und wankte entlang der Eisenbahnschienen weiter.
Als sich endlich das Silo vor ihm auftürmte, hatte Joel die Hoffnung schon fast aufgegeben. Es kam ihm vor, als wäre er dem umherirrenden Lichtkegel bereits eine Ewigkeit lang gefolgt. Ohne nachzudenken. Wohin lief er eigentlich? Er trocknete sich die Tränen und hielt nach irgendwelchen Lebenszeichen Ausschau. Alles um ihn herum war dunkel. Vielleicht war der Strom wieder ausgefallen?
Dann bog er vom Bahndamm geradewegs in den Tiefschnee ab. Nach einer Weile kam er an einer Gruppe kahler Bäume neben einem Grab aus Mergelgestein vorbei. Diese sumpfigen Schlammlöcher draußen auf den Äckern waren bodenlos, so ging jedenfalls das Gerücht, als er ein Kind gewesen war. Es war gefährlich, sich ihnen zu nähern. Ein paar hundert Meter weiter tauchte die Weidenallee mit ihren knorrigen Stämmen auf, deren abstehende Zweige wie Peitschen im Wind pfiffen. Joel folgte ihr ein Stück weit, bis er das Haus erkennen konnte. Dann hielt er keuchend an. Ihm graute davor, was ihn erwartete.
Genau wie er es in Erinnerung hatte, lag Mårtens Haus etwas abseits, umgeben von Kastanienbäumen, die im Sturm ächzten. Er schlich langsam näher und horchte. In einem Fenster leuchtete eine Lampe. Oder war es eher eine Kerze, die da drinnen flackerte? Ein schwacher Geruch nach Rauch stieg ihm in die Nase.
Allmählich wurde er von einem unangenehmen Gefühl befallen: Irgendjemand schien ihn zu beobachten.
Direkt neben der Werkstatt stand ein schneebedecktes Fahrzeug. Joel wischte ein wenig Schnee mit der Hand weg und leuchtete das Nummernschild an. Es war ein Cherokee-Jeep, stellte er fest. Im Schnee waren keine Reifenspuren zu sehen. Ein lautes Krächzen ließ ihn zusammenzucken. Auf der Dachrinne oberhalb der Haustür kauerte eine Krähe. Ihre schwarzen Augen funkelten im Schein der Taschenlampe. Der Vogel beäugte ihn streng, als bewachte er ein Geheimnis.
Joel erschauderte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Aber was mache ich, wenn sie auf mich warten?
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte durch eine Fensterscheibe hineinzublicken. Doch das Licht war zu schwach, nur Umrisse waren zu erkennen. Die danebenliegende Scheibe war gesprungen und mit einer Spanplatte bedeckt.
Joel schaltete die Taschenlampe aus. Er nahm die Schrotflinte von der Schulter und vergewisserte sich noch einmal, dass sie geladen war. Versuchte seine Atmung zu beruhigen, bevor er die Türklinke so lautlos wie möglich hinunterdrückte.
Als der Wind über die Türschwelle blies, klang es, als gäbe das Haus einen Seufzer von sich. Joel zog an der Tür. Drinnen war es still. Ein Paar Stiefel im Flur. Wollsocken, die zum Trocknen über der Heizung hingen, verbreiteten einen säuerlichen Geruch.
«Hallo! Ist da jemand?», rief Joel, ohne eine Ahnung zu haben, was er tun würde, wenn er eine Antwort erhielte.
Er zog die Tür hinter sich zu und machte ein paar Schritte in den Flur. Das Dröhnen des Sturms war nur noch gedämpft zu hören. Stattdessen vernahm er jetzt das Pochen seines eigenen Herzens. Joel umfasste die Flinte und entsicherte sie.
«Hallo!», rief er erneut.
Ein unruhiger Schein fiel durch eine Türöffnung in den Flur. Eine schwarze Katze schlich um die Ecke und verschwand die Treppe hinauf ins Obergeschoss, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
«Ist jemand zu Hause?»
Joel tastete sich noch ein Stück weiter vor und warf einen Blick in den Raum, der damals sowohl als Wohnzimmer als auch als Atelier gedient hatte.
Der Lichtschein, den er gesehen hatte, kam von einem langsam erlöschenden Feuer im Kamin. Auf dem Dielenboden davor stand ein Sessel. Doch das, was seine Aufmerksamkeit weckte, war ein dunkler Schatten, der mitten im Raum zu schweben schien.
Erfüllt von bösen Vorahnungen, riss Joel die Taschenlampe hoch und richtete sie darauf.
Von einem stabilen Haken an der Decke, der möglicherweise einmal einen schweren Leuchter getragen hatte, hing eine Wäscheleine, die
Weitere Kostenlose Bücher