Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Meine Mutter steht hinter einer Absperrung in Terminal eins und lächelt in sich hinein. Noch sieht sie mich nicht, aber ich sehe sie: Wie sie von einem Bein auf das andere tritt, in ihrer knautschigen braunen Lederhandtasche nach einem Pfefferminzbonbon kramt und dann wieder aufschaut und lächelt – sie kann ihre Vorfreude nicht verbergen. Auch ich würde am liebsten losrennen und sie umarmen, aber ich warte noch auf meine Siebensachen, während fremde Koffer auf dem quietschenden schwarzen Gepäckband an mir vorbeifahren. Es herrscht Gedränge, die Stimmung ist angespannt. Am Freitagabend betet jeder Passagier, dass seine Tasche nicht die letzte ist. Alle wollen zu ihrer Familie, ins Wochenende. Das Gepäck einer Frau ist so schwer, dass sie es nicht allein hochheben kann. Ein Mann hilft ihr. Als er sich bückt, um den Trolley mit beiden Händen vom Band zu schaufeln, rutscht seine Hose ein Stück runter und legt seine behaarte Po-Ritze frei. Ich muss lachen. An den Glaswänden stehen in großen gelben Klebebuchstaben die Artikel aus dem Rheinischen Grundgesetz geschrieben. »Jede Jeck is anders« – das ist mein Lieblingsspruch. Während der Mann seine Last auf einen klapprigen Gepäckwagen krachen lässt, schiebe ich mich mit einem »’tschuldigung« an ihm vorbei und berge, was mir gehört.
Hinter der Glaswand, die mich und meine Mutter nur noch wenige Augenblicke voneinander trennt, recken und strecken sich die Köpfe von Menschen, um ihre Verwandtschaft zu entdecken. Meine Mutter ist nicht groß, so wie viele Mütter kleiner als ihre erwachsenen Töchter sind. Als sie mich sieht, winkt sie mit beiden Armen, als müsse sie einen Hubschrauber einwinken, und lacht so doll, dass man die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen sieht. Ich sehe sie auf- und abspringen, stumm, ohne Geräusche, und forme mit dem Mund ein »Hallo«.
Meine Mutter liebt Wiedersehen. Am liebsten hätte sie uns Kinder nie von zu Hause wegziehen lassen. Jetzt lebt sie allein in einem Haus, in dem zu viele Zimmer leer stehen und in dem ihr niemand eine gute Nacht wünscht, bevor sie schlafen geht. Immer, wenn ich wegfahre, muss ich ihr versprechen, dass ich bald wiederkomme. Ich wünschte, ich könnte sie einpacken und mitnehmen, aber so funktioniert das Leben nicht.
»Sonnenschein!«, ruft sie, als ich in die Ankunftshalle des Flughafens trete. Ein paar Leute schauen zu uns hin. Meine Mutter klatscht in die Hände und presst sie vor ihrem Herzen zusammen. Dann breitet sie ihre Arme aus und lässt mich in sie hineinlaufen, wie ein Sprinter ins Ziel. Wir umarmen uns länger als die meisten anderen, die sich heute wiedersehen. Meine Mutter überschüttet mein Gesicht mit Küssen. Als Teenager war es mir peinlich, wenn sie mich in der Öffentlichkeit »Sonnenschein« nannte und abknutschte. Heute will ich in den Arm genommen, geküsst und mit Kosenamen gerufen werden. Alle sollen sehen, wie glücklich ich bin, meine Mutter zu haben. Mein Vater holt mich nicht ab. Er ist tot.
Mein Vater war manisch-depressiv und hat sich das Leben genommen. Es ist lange her und ich rede nicht gern darüber. Meine ganze Familie redet irgendwie nicht viel darüber. Vielleicht weil keiner so richtig weiß, wie. Irgendwer fängt immer an zu weinen und ehe man sich versieht, ist die Stimmung im Eimer. Aber das soll nun anders werden, zumindest habe ich es mir vorgenommen. An diesem Wochenende bin ich nicht zu Besuch, um gut zu essen und meine Wäsche zu waschen. Es ist weder ein Feiertag noch hat jemand Geburtstag. Ich bin gekommen, um mich zu erinnern. Das hat sowohl persönliche als auch praktische Gründe. Ich brauche Infos für meine Abschlussarbeit, die ich in ein paar Wochen abgeben muss. Das Thema heißt »Lebenslust und Lebensmüdigkeit – der Selbstmord als Kulturphänomen«.
Ich bin jetzt 25 Jahre alt und habe keinen Schimmer, wer ich bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht weiß, wer mein Vater eigentlich war. Das Problem war mir vorher nicht so bewusst, aber dann ist etwas passiert und das war so, als hätte mir jemand einen Kübel Eiswasser ins Gesicht gekippt.
Vor ein paar Monaten habe ich mich in Magnus verliebt. Es war in einer Bar in Berlin, wo man Flipper spielen kann. Er stand mit dem Rücken zu mir und hämmerte auf den blinkenden Spielautomaten ein. Mir gefielen sein Lockenkopf und seine Arme, auf denen sich die Adern wie Seile abzeichneten. Als er sich umdrehte, wusste ich, dass da was geht. Meine Knie wurden weich und ich
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